
Münster/Essen/Köln. Es sind schwerwiegende Vorwürfe, die in den vergangenen Jahren in mehreren westdeutschen Bistümern erhoben wurden: Menschen berichteten, sie seien Opfer brutalster Gewalttaten mit rituellen Bezügen geworden – verübt von angeblichen kirchlichen Täternetzwerken, denen sogar ranghohe Geistliche angehört haben sollen. Nun liegt das Ergebnis einer einjährigen unabhängigen Untersuchung vor. Das Fazit: Die Vorwürfe lassen sich nicht belegen.
Als das Bistum Münster im Frühjahr 2024 die renommierte Kanzlei Feigen · Graf aus Köln mit einer Überprüfung der Anschuldigungen beauftragte, war die Aufmerksamkeit groß. Auch das Bistum Essen und das Erzbistum Köln schlossen sich später der Untersuchung an. Hintergrund waren Aussagen von rund einem Dutzend Menschen, die sich als Opfer sogenannter „ritueller Gewalt“ bezeichneten. Sie schilderten grausame Szenen, Folter, Missbrauch – und angeblich systematisch organisierte Verbrechen.
Um die Glaubhaftigkeit der Berichte zu prüfen, führte die Kanzlei intensive Gespräche, wertete Akten aus und ließ ein aussagepsychologisches Gutachten erstellen. Dieses Gutachten ist nun Teil des 200 Seiten starken Abschlussberichts, den die Bistümer am 9. Oktober 2025 veröffentlichten.
Die Ergebnisse fallen eindeutig aus: Kein einziger objektiver Beleg spricht für die Existenz solcher Netzwerke oder der beschriebenen Taten. Weder Akten noch externe Quellen stützen die Behauptungen. Auch die Gutachterinnen Prof. Dr. Silvia Gubi-Kelm und Dr. Petra Wolf sehen in den Schilderungen keine Hinweise auf tatsächliche Erlebnisse, sondern auf verzerrte Erinnerungskonstruktionen.
„Die untersuchten Aussagen zeigen typische Merkmale sogenannter falscher autobiografischer Erinnerungen“, heißt es im Bericht. Als mögliche Ursache werden suggestive Einflüsse im therapeutischen Umfeld genannt – etwa, wenn Betroffene im Rahmen von Traumatherapien unbewusst zu bestimmten Narrativen hingeführt werden.
Die Kanzlei betont: Sexualisierte und organisierte Gewalt mit rituellen Bezügen kann es durchaus geben. Doch die sogenannte „Rituelle-Gewalt-Theorie“, nach der Täter gezielt durch „Mind Control“ oder „Programmierung“ multiple Persönlichkeiten erzeugen, ist wissenschaftlich nicht belegt.
In den untersuchten Fällen gebe es keinerlei Anzeichen für ein systematisch organisiertes kirchliches Täternetzwerk. Stattdessen verweisen die Gutachter auf eine „Verfestigung von Erzählungen“, die in bestimmten Therapieumfeldern über Jahre hinweg gewachsen seien.
Selbstkritisch blickt die Kirche nun auf ihre Vergangenheit: Über Jahre existierte im Bistum Münster eine Beratungsstelle „Organisierte sexuelle und rituelle Gewalt“, die bis 2023 aktiv war. Auch ein überdiözesaner „Arbeitskreis Rituelle Gewalt“ tagte seit 2011 regelmäßig. Beide Einrichtungen werden heute kritisch gesehen, da sie die Theorie der rituellen Gewalt teils unkritisch übernommen hätten.
„Die Schließung der Beratungsstelle war richtig, aber sie kam zu spät“, heißt es aus dem Bistum. Gleichwohl betonen die Verantwortlichen, dass die Betroffenen nicht diskreditiert werden sollen. Viele glaubten tatsächlich an das, was sie schildern – und litten unter ihren Erinnerungen, auch wenn diese sich nicht belegen lassen.
Künftig sollen Hinweise auf mögliche ritualisierte Gewalt unmittelbar an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden. Leistungen im Rahmen der Anerkennung des Leids bleiben davon unberührt.
Bei Therapiekosten ziehen die Bistümer jedoch eine klare Linie: Diese werden nur übernommen, wenn die Behandelnden nicht aktiv die Theorie der rituellen Gewalt vertreten – um zu vermeiden, dass Leid durch falsche Erinnerungen zusätzlich verstärkt wird.
Das Ziel, so das Bistum Münster, sei ein „verantwortungsvoller, wissenschaftlich fundierter Umgang mit komplexen Trauma-Erfahrungen“.
Der vollständige Untersuchungsbericht liegt in geschwärzter und anonymisierter Form online vor. Das Bistum Münster will damit Transparenz schaffen und gleichzeitig ein Signal senden:
„Wir nehmen alle Betroffenen ernst – aber wir müssen zwischen subjektivem Erleben und objektiver Beweisbarkeit unterscheiden.“
Die Veröffentlichung markiert einen Wendepunkt in der innerkirchlichen Aufarbeitung. Sie zeigt, wie schwierig die Balance zwischen Empathie, Aufklärung und Verantwortung bleibt – gerade bei Themen, die an die Grenzen des Vorstellbaren reichen.