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Verzögerungen beim Netzausbau drohen: Freileitung statt Erdkabel?

Die Errichtung eines der größten Batteriespeicher in Deutschland in Metelen stabilisiert das Stromnetz, unterstützt die lokale Wirtschaft und fördert den Klimaschutz
Foto: Didgeman

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Es drohen Verzögerungen beim Netzausbau. Grund sind geplante Änderungen im Koalitionsvertrag der Bundesregierung, die einen Vorrang von Freileitungen gegenüber Erdkabeln vorsehen. Der Dortmunder Übertragungsnetzbetreiber Amprion warnt, dass diese Neuausrichtung bei Stromtrassen Genehmigungsverfahren verlängern und den dringend nötigen Netzausbau bremsen könnte. Sachliche Stimmen aus Politik und Wirtschaft diskutieren nun die Hintergründe dieser Pläne und ihre möglichen Auswirkungen auf Regionen wie das Münsterland.

Verzögerungen beim Netzausbau: Amprion-Chef warnt vor Freileitungs-Plänen

Amprion-Geschäftsführer Christoph Müller sieht die Pläne kritisch. „Wir haben zurzeit einen Vorrang für Erdkabel“, erläuterte Müller und spielte damit auf die aktuelle Rechtslage an​. Wird dieser Vorrang gestrichen, wandert die Grundsatzfrage Freileitung oder Erdkabel in jedes einzelne Genehmigungsverfahren. Dies führe zwangsläufig wieder zu längeren Verfahren, so Müller​. Anders gesagt: Sobald nicht mehr per Gesetz entschieden ist, dass neue Leitungen unterirdisch verlegt werden, müssten Öffentlichkeit und Behörden dies für jedes Projekt neu verhandeln. Das könnte Verzögerungen beim Netzausbau nach sich ziehen, weil Debatten und Gutachten zu Trassenvarianten viel Zeit kosten.

Müller betont, man müsse konsequenterweise dann „wieder einen Vorrang für Freileitung“ gesetzlich festlegen, wenn die Politik Erdkabel nicht länger bevorzugen will​. Ein solcher Schritt wäre jedoch „eine große politische Entscheidung“, die Widerstände auslösen dürfte. Hintergrund ist, dass Freileitungen in der Bevölkerung umstrittener sind als Erdkabel. Der Amprion-Chef machte deutlich, dass man den „Geist der Erdkabel nicht mehr in die Flasche bekommen“ werde​ – die Akzeptanz der Bürger für unterirdische Leitungen sei inzwischen deutlich höher. Bei einigen neuen Erdkabel-Abschnitten gab es überhaupt keine Einwände aus der Bevölkerung, sodass Anhörungstermine entfallen konnten​. Solche Ruhe vor Protest habe es bei Freileitungen nie gegeben, schildert Müller. Seine Warnung: Eine abrupte Kehrtwende hin zu mehr Freileitungen könnte die lokal gewachsene Akzeptanz zerstören und neue Konflikte schüren.

Politische und wirtschaftliche Hintergründe: Freileitungen statt Erdkabel aus Kostengründen

Warum will die Politik überhaupt am Erdkabel-Konsens rütteln? Union und SPD haben sich in ihren Koalitionsverhandlungen darauf verständigt, den Netzausbau kosteneffizient voranzubringen​. Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, neu zu planende Höchstspannungs-Gleichstromleitungen „wo möglich als Freileitungen umzusetzen“​. Damit sollen teure unterirdische Trassen auf das Nötigste begrenzt werden. Allerdings solle auf besonders belastete Regionen weiterhin Rücksicht genommen werden​ – das heißt, in sensiblen Fällen kämen wohl doch Erdkabel infrage. Insgesamt aber signalisiert die geplante Vereinbarung einen politischen Kurswechsel zugunsten oberirdischer Stromleitungen.

Der wirtschaftliche Hintergrund: Gleichstrom-Erdkabel sind deutlich teurer als Gleichstrom-Freileitungen. Die Unterschiede sind erheblich – teils kostet die Erdverkabelung ein Vielfaches mehr als Freileitungsbau​. Da die Kosten für den Übertragungsnetzausbau über die Netzentgelte von allen Stromverbrauchern getragen werden​, wächst der politische Druck, bezahlbare Lösungen zu finden. Führende Unions-Politiker argumentieren, man könne die stark steigenden Netzkosten nicht länger mit teuren Erdverkabelungs-Projekten belasten. CDU-Bundesvize Andreas Jung verwies darauf, dass Erdkabel „um ein Vielfaches teurer“ seien – deswegen brauche es eine neue Offenheit für Freileitungen​. Auch Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, sieht „unbestreitbare Kostenvorteile“ bei Freileitungen im Bau und vermutlich auch im Unterhalt​. Kurz gesagt: Schneller und günstiger soll der Netzausbau werden, um die Stromautobahnen zügig auszubauen und Kosten zu dämpfen.

Warnende Stimmen aus Niedersachsen

Allerdings warnen andere Stimmen, dass reine Kostenfokussierung nach hinten losgehen könnte. Olaf Lies (SPD), Wirtschaftsminister in Niedersachsen, mahnt, man dürfe nicht am falschen Ende sparen – eine Rückkehr zur Freileitung untergrabe den mühsam erreichten gesellschaftlichen Konsens beim Netzausbau. Wenn die Akzeptanz der Anwohner verloren geht, drohten am Ende erst recht Verzögerungen beim Netzausbau. Ähnlich argumentiert Niedersachsens Umweltminister Christian Meyer (Grüne): Die Erdverkabelung habe die breite Zustimmung der Bevölkerung erst ermöglicht; diesen Konsens aufs Spiel zu setzen, könne die Energiewende insgesamt ausbremsen​. Die politischen Lager sind hier also gespalten – auf der einen Seite Kosten- und Effizienzbefürworter, auf der anderen Seite Verfechter der gesellschaftlichen Akzeptanz als oberste Priorität.

Regionale Auswirkungen: Streit um die Leitung Westerkappeln–Werne im Münsterland

Die Kontroverse spiegelt sich deutlich in den Regionen wider. Ein Beispiel ist die geplante 380‑Kilovolt-Höchstspannungsleitung von Westerkappeln (Kreis Steinfurt) zum Gersteinwerk in Werne (Kreis Unna) – ein Projekt, das quer durch Teile des Münsterlands verlaufen soll. Diese Stromtrasse (Vorhaben 89 im Bundesbedarfsplan) ist als Freileitung geplant und stößt vor Ort auf erheblichen Widerstand​. In den Kreisen Steinfurt und Warendorf sowie angrenzenden Gemeinden formierten sich Bürgerinitiativen gegen die Freileitungspläne​. Städte wie Tecklenburg, Lienen, Lengerich und Ladbergen haben eine Petition gegen das Vorhaben gestartet​. Lokalpolitiker aller Ebenen schlagen Alarm: Um den Anliegen der Bürger Gehör zu verschaffen, hat der regional zuständige Bundestagsabgeordnete Jürgen Coße (SPD) gemeinsam mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern einen Fragenkatalog mit über 70 Punkten an Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und an Amprion übergeben​. Darin wird unter anderem gefragt, ob nicht doch Erdkabel-Alternativen – etwa in Teilabschnitten oder als Gleichstromleitung – möglich wären und warum diese offenbar verworfen wurden. Die Region verlangt Transparenz und prüft alle technischen Optionen, um die Landschaft und den Teutoburger Wald zu schonen. Dieses Beispiel zeigt: Vor Ort wollen viele Betroffene die Freileitung nicht einfach hinnehmen.

Lang anhaltende Planungen

Die Planungen für die Leitung Westerkappeln–Werne laufen bereits seit mehreren Jahren​. Amprion hat umfangreiche Gutachten zu Umwelt- und Naturschutz erstellt und verschiedene Trassenkorridore geprüft​. Inzwischen liegt ein Vorschlag für den aus Sicht des Unternehmens „konfliktärmsten“ Verlauf vor​. Dennoch ist formal noch nichts beschlossen – zunächst muss das gesetzliche Planfeststellungsverfahren abgeschlossen werden​. Amprion rechnet frühestens 2028 mit einem Baubeginn​. Die lange Dauer verdeutlicht bereits, wie aufwendig solche Großprojekte sind. Kommt nun zusätzlich die Grundsatzfrage Freileitung vs. Erdkabel wieder auf den Tisch, könnte dies die Verfahren weiter verzögern. Im Münsterland fordern viele Bürger zumindest in sensiblen Abschnitten eine Erdverkabelung. Sollten die neuen politischen Vorgaben jedoch Richtung Freileitung gehen, drohen Konflikte und möglicherweise Klagen, was die Fertigstellung der Trasse weiter hinauszögern könnte. Die regionale Debatte im Münsterland ist damit ein Vorgeschmack darauf, was bundesweit passieren kann, wenn Akzeptanz und Ausbaugeschwindigkeit in ein neues Ungleichgewicht geraten.

Gesetzliche Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Akzeptanz

Rein rechtlich ist der Erdkabel-Vorrang in Deutschland seit Ende 2015 verankert. Damals setzte die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD dieses Prinzip durch, um die Akzeptanz in der Bevölkerung für neue Stromtrassen zu erhöhen​. Fortan galt für die neuen großen Nord-Süd-Stromautobahnen (Hochspannungs-Gleichstromtrassen) grundsätzlich: Erdkabel zuerst, Freileitung nur wo unbedingt nötig. Dieser Kurs trug Früchte – trotz tausender Kilometer geplanter Leitungen hat sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens herausgebildet, die Energiewende nicht durch Proteste gegen neue Stromtrassen zu gefährden​. Bürger und Kommunen konnten eher zustimmen, weil die Technik unter der Erde verschwindet. Die Bundesnetzagentur sowie Landesregierungen in windreichen Bundesländern betonen, dass der Netzausbau zuletzt immer schneller vorankam, gerade weil dank Erdverkabelung die Bevölkerung mitzieht.

Nun steht ein gesetzlicher Kurswechsel im Raum. Die im Koalitionsvertrag avisierten Änderungen würden den Erdkabel-Vorrang streichen – de facto eine Gesetzesänderung des Bundesbedarfsplangesetzes und anderer einschlägiger Vorschriften. Möglich wäre, dass ein neuer Vorrang für Freileitungen formuliert wird. Damit würde sich das Rad der Zeit zurückdrehen: Vor 2015 hatten Freileitungen schon einmal den Vorrang. Die Folgen für die Gesellschaft sind umstritten. Befürworter versprechen sich schnellere, günstigere Projekte und argumentieren, dass die Energiewende nur gelingt, wenn die Stromnetze rasch ausgebaut werden – notfalls auch gegen lokalen Widerstand. Kritiker hingegen fürchten, dass eine solche Kehrtwende den fragilen Konsens zerstört. Sollte die Bevölkerung vor Ort das Gefühl bekommen, über ihre Köpfe hinweg würden aus Kostengründen nun doch wieder gigantische Masten durch Landschaft und Wohngebiete gezogen, könnte der Protest neu entflammen. Das wiederum würde zu Planungsstops, Rechtsstreitigkeiten und politischen Konflikten führen – exakt jene Verzögerungen beim Netzausbau, die man eigentlich vermeiden möchte.

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