Diese Kategorie dürfte in diesem Filmjahr diejenige sein, in der eine Fehlentscheidung unmöglich ist. Alle Hauptdarstellerinnen überzeugen mit großartigen Leistungen. Mit Sandra Hüller ist zudem eine deutsche Schauspielerin nominiert, weshalb sich eine genauere Betrachtung der Kandidatinnen lohnt. Der Fokus soll in diesem Artikel auf Sandra Hüller und Annette Bening liegen, da ihre Darbietungen einige Parallelen aufweisen.
Sandra Hüller muss als Sandra Voyter schauspielerisch die inneren und äußeren Konflikte darstellen, die sich aus der Doppelrolle ihrer Figur als Ehefrau und Mutter ergeben. In beiden Rollen sitzt sie gleichermaßen auf der Anklagebank und muss sich sowohl dem Gericht als auch ihrem Sohn gegenüber verantworten, ohne dabei den emotionalen Bezugspunkt, den sie als Elternteil und die Familie insgesamt für den Jungen bildet, vollkommen zu zerstören. Sie möchte ihrem Sohn aus diesem Grund möglichst wenig über ihre Ehe enthüllen und doch erfordert der Gerichtsprozess zwangsläufig die explizite Offenlegung aller Details. Affären, Streitigkeiten und häusliche Gewalt werden schonungslos aufgedeckt und für ihren Sohn sichtbar gemacht. Zu dem körperlichen Leiden der eingeschränkten Sehfähigkeit, das er aufgrund der Nachlässigkeit seiner Eltern erlitt, tritt das emotionale Leid, seine Eltern und das, was sie sich gegenseitig angetan haben, nun zum allerersten Mal in aller Schärfe sehen zu können.
Die glasigen Augen des Sohnes sind dabei vermutlich nicht so sehr als Anspielung auf die mit einer Augenbinde versehenen Gerechtigkeitsgöttin Justitia zu verstehen, sondern als Spiegel, in dem sich die Mutter sieht und vor sich selbst verantworten muss. Hüller gelingt es, sowohl die emotionalen Streitszenen als auch die eher schleichend und zunehmend unangenehmer werdenden Gerichtsszenen überzeugend zu spielen. Auch die Interaktionen mit dem Sohn stellt sie nuanciert gefühlvoll, aber auch mit vorsichtiger Distanz dar, weil sie sich andernfalls den Vorwurf der Zeugenmanipulation ankreiden lassen müsste.
Unausgesprochen steht auch die Frage im Hintergrund: Was ist das schlimmere Schicksal – das unsere Kinder nicht so werden wie wir oder das Gegenteil?
Auch die Darbietung von Annette Bening als Diane Nyad besticht: Ihr gelingt es, das unerschütterliche Selbstvertrauen der Figur so deutlich zu machen, dass der Zuschauer nie an ihrer Überzeugung zweifelt, sondern nur an der menschlichen Umsetzbarkeit des Vorhabens, als 64-Jährige eine Strecke von 177 km ohne Hilfsmittel zu schwimmen und so die Floridastraße zu durchqueren.
Der Film (und die beiden Hauptfiguren Diane und Bonnie in ihrer Interaktion) zeigen dabei auch, wie der moderne LGBTQ+-Film aussehen kann: Die sexuelle Orientierung von Diane Nyad, die offen lesbisch lebt, wird nur beiläufig erwähnt, wenn erörtert wird, ob eine neue Liebesaffäre nicht ein geeigneteres Abenteuer wäre als die gefährliche und nahezu unmöglich erscheinende Schwimmherausforderung, der sie sich stellen will. Diane definiert sich nicht über ihre Sexualität, sondern über die Durchsetzungsfähigkeit ihres Willens gegenüber jedweden äußeren Umständen. Der Ozean muss für sie daher zwangsläufig reizvoller als eine Tinder-Affäre sein. Auch in Anbetracht der sexuellen Misshandlung, die sie als junges Mädchen durch ihren Schwimmtrainer durchleben musste, liegt es nahe, dass Diane trotz Überwindung dieses Traumas in einer romantischen oder sexuellen Erfahrung nicht den Sinn ihres Lebens sehen kann.
Ihre sexuelle Orientierung wird daher einerseits als Selbstverständlichkeit präsentiert und in keiner Weise kritisiert. Andererseits wird sie auch nicht als zentrales Element der Filmhandlung thematisiert. Die Misshandlungserfahrung wird nur kurz vor dem Hintergrund angesprochen, dass dieser Moment der Verwundbarkeit das einzige Ereignis war, das Dianes sonst unerschütterliches Selbstbewusstsein überhaupt ins Wanken bringen kann. Bening erlaubt ihrer Figur folgerichtig nur an dieser Stelle des Films einen Gefühlsausbruch als Ausdruck der Verwundbarkeit, der aber nur einen kurzen Moment andauern darf.
Um einen guten LGBTQ+-Film zu produzieren, muss die sexuelle Orientierung als solche nicht problematisiert werden. Noch drastischer formuliert: Eine filmische Normalisierung von LGBTQ+-Inhalten kann nur gelingen, wenn die sexuelle Orientierung der Figuren nicht mehr als gesellschaftliches Problem den Hauptgegenstand der Filmhandlung darstellt.
Gemeinsam ist Anatomie eines Falls und Nyad, dass sie, entsprechend den Überlegungen des Philosophen Harry Frankfurt, Liebe als eine besondere Form der Sorge des einen Menschen um einen anderen Menschen auffassen. Die Sorge von Bonnie um Diane zeigt sich in der Hingabe, mit der sie selbstlos das Vorhaben ihrer Freundin unterstützt, wohl wissend, dass dies ihren Tod bedeuten könnte, den sie als liebende Freundin und Trainerin live mit ansehen müsste. Sie umsorgt Diane schließlich sowohl physisch, indem sie sie trainiert und während der Rekordversuche mit Hinweisen und Nahrungsmitteln unterstützt, als auch durch ihren emotionalen Rückhalt. Nicht zuletzt bildet sie als Dianes fürsorglicher Coach die Antithese zu dem missbräuchlichen Coaching-Verhältnis, das Diane in ihrer Jugendphase erleben musste.
Sandra Voyters Sorge in Anatomie eines Falls gilt ganz klar ihrem Sohn, den sie von der Enthüllung der Wahrheit über ihre Beziehung zu seinem Vater schützen möchte, nicht zuletzt, weil der Vater die Sorge um den sehbehinderten Sohn als Erklärung dafür anführt, warum er seine gesteckten Lebensziele nicht erreichen konnte. Sandra entlarvt dies als Selbstschutzmaßnahme ihres Mannes, aber es scheint unausweichlich, dass der Sohn sich trotzdem selbst eine Schuld an dem Tod des Vaters ankreiden wird.
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