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Agatha Christies geheimnisvolles Verschwinden: Entführung oder Ehedrama, Mord oder Suizid?

Agatha Christie
Foto: "Agatha Christie in Nederland", Joop van Bilsen / Anefo, CC0, via Wikimedia Commons

Im Dezember 1926 hielt das rätselhafte Verschwinden der berühmten Krimi-Autorin Agatha Christie ganz England in Atem​. Die Schöpferin von Detektivlegenden wie Hercule Poirot und Miss Marple war plötzlich spurlos verschwunden – wie in einem ihrer eigenen Romane. Elf Tage lang suchten Polizei, Presse und Öffentlichkeit fieberhaft nach der damals 36-jährigen Schriftstellerin, bis sie schließlich wohlbehalten wiederauftauchte. Doch die Umstände ihres Verschwindens blieben ungeklärt und geben bis heute Anlass zu Spekulationen. Dieser Artikel beleuchtet Christies Lebensgeschichte, schildert die Geschehnisse jener Dezembertage und stellt Theorien zu ihrem „größten Mysterium“ vor – erzählt im Stil eines Kriminalfalls, klar und sachlich, aber so spannend wie ein Whodunit.

Agatha Christie – Leben und Karriere einer Krimi-Queen

Agatha Mary Clarissa Miller wird am 15. September 1890 in eine wohlhabende Familie in Torquay (Grafschaft Devon) geboren​. Sie ist das jüngste von drei Kindern. Ihr Vater, der amerikanische Geschäftsmann Frederick Miller, stirbt, als Agatha erst elf Jahre alt ist, woraufhin die Mutter Clara die Erziehung allein übernimmt​. Schon in jungen Jahren zeigt Agatha eine blühende Fantasie und liebt Geschichten. Ihre Mutter ermutigt sie, selbst zu schreiben – eine Herausforderung, die Agatha annimmt. Bereits als Teenager verfasst sie erste Kurzgeschichten; den Einstieg ins Krimi-Genre findet sie auch durch die Detektivromane von Sir Arthur Conan Doyle, die sie als Lektüre verschlingt.

Mit 22 Jahren lernt Agatha auf einem Ball den Offizier Archibald “Archie” Christie kennen​. Die beiden verlieben sich und heiraten an Heiligabend 1914, kurz nachdem Archie aus dem Ersten Weltkrieg auf Fronturlaub zurückkehrt​. Während Archie als Pilot an der Front dient, meldet sich Agatha als Freiwillige: Sie arbeitet in einem Krankenhaus und später in einer Apotheke, wobei sie sich Kenntnisse über Gifte aneignet – ein Detail, das sie später in vielen Romanen geschickt einsetzen wird. 1919 kommt ihre Tochter Rosalind zur Welt, und im selben Jahr schließt Agatha einen Vertrag für ihren ersten Kriminalroman ab​. 1920 erscheint The Mysterious Affair at Styles (deutscher Titel: Das fehlende Glied in der Kette), in dem sie den belgischen Meisterdetektiv Hercule Poirot einführt. Der Roman hat Erfolg und begründet Christies Karriere als Kriminalautorin.

In den folgenden Jahren schreibt Agatha Christie eifrig weiter. Sie veröffentlicht mehrere Detektivromane – darunter The Secret Adversary (1922, dt. Ein gefährlicher Gegner) und The Murder of Roger Ackroyd (1926, dt. Alibi) – und etabliert sich als aufstrebende “Queen of Crime”. Ihre Bücher verkaufen sich gut, doch Agatha bleibt bescheiden. Geprägt von finanziellen Sorgen in der Kindheit führt sie trotz wachsender Honorare ein zurückhaltendes, sparsames Leben​. Diese Vorsicht führt jedoch zu Spannungen in der Ehe: Archie fühlt sich eingeschränkt und entfremdet sich zunehmend von seiner Frau​. Agatha teilt auch nicht alle seine Interessen – Archies Leidenschaft für Golf zum Beispiel lässt sie kalt​. Während Agatha literarische Triumphe feiert, kriselt es im Hause Christie.

Schicksalsschläge: Jahr der Krise 1926

Das Jahr 1926 markiert einen Wendepunkt in Agatha Christies Leben. Zunächst trifft sie ein schwerer Verlust: Im Frühjahr 1926 stirbt ihre geliebte Mutter Clara nach langer Krankheit​. Agatha ist tief getroffen und fällt in Trauer. Dennoch arbeitet sie weiter – möglicherweise auch, um sich abzulenken – und vollendet ihren Erfolgsroman The Murder of Roger Ackroyd, der noch im selben Jahr erscheint und für Aufsehen sorgt. Doch kaum hat sie diesen beruflichen Höhepunkt erreicht, erschüttert der nächste Schlag ihr Privatleben: Agatha entdeckt, dass ihr Ehemann Archie eine Affäre mit seiner jungen Sekretärin Nancy Neele begonnen hat​. Archie gesteht die Beziehung und bittet um die Scheidung. Für Agatha bricht eine Welt zusammen. Die Kombination aus Trauer, Arbeitsdruck und Ehekrise setzt ihr seelisch stark zu – Freunde und Bedienstete berichten später, sie sei in diesen Tagen „sehr deprimiert“ gewesen​.

Am Freitag, dem 3. Dezember 1926, kommt es zum Showdown zwischen den Christies. Das Ehepaar gerät in einen heftigen Streit, vermutlich wegen Archies Wunsch, das Wochenende mit seiner Geliebten Nancy zu verbringen. Schließlich verlässt Archie wütend das gemeinsame Landhaus “Styles” in Sunningdale (Berkshire), um mit Freunden – und Nancy – wegzufahren​. Agatha bleibt mit der siebenjährigen Rosalind und dem Hauspersonal zurück. Spät am Abend fasst sie einen folgenschweren Entschluss: Sie küsst ihre schlafende Tochter zum Abschied – auffallend liebevoll, als wolle sie sich für lange Zeit verabschieden ​– und fährt mit ihrem hellgrünen Morris-Cowley-Automobil in die dunkle Dezembernacht davon. Von diesem Moment an verliert sich ihre Spur.

Das Verschwinden am 3. Dezember 1926

In den frühen Morgenstunden des 4. Dezember 1926 entdeckt die Polizei Agatha Christies verlassenes Auto in der Grafschaft Surrey, rund 300 Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Der Wagen steht unweit von Guildford am Rande einer alten Kalkgrube bei einem Teich namens Silent Pool – ausgerechnet jenem Ort, an dem in einem ihrer Romane eine Figur ertrinkt, eine makabre Parallele zur Fiktion​. Der Morris Cowley scheint in einen Busch oder Heckenwall gefahren zu sein; die Vorderreifen hängen über dem Rand der Grube, als hätte das Auto beinahe abstürzen können​. Im Wageninneren machen die Ermittler einige auffällige Funde: Auf dem Sitz liegen Agathas Führerschein, ihr warmer Pelzmantel und ein zurückgelassener Koffer​. Vom Fahrer fehlt jedoch jede Spur. Die Scheinwerfer brennen noch (laut einigen Berichten), was darauf hindeutet, dass der Wagen abrupt verlassen wurde​.

Sofort schießen den Ermittlern Fragen durch den Kopf: Hatte es einen Unfall gegeben? Aber warum würde die Fahrerin in einer eiskalten Nacht ihren Mantel zurücklassen​? War die Autorin Opfer eines Verbrechens geworden? Erste Überlegungen reichen von einem tragischen Unglück bis hin zu Entführung oder Schlimmerem​​. Alternativ könnte auch ein Suizidversuch vorliegen – vielleicht hat Agatha Christie ihren Wagen bewusst in der abgelegenen Gegend stehen lassen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen? Die Fundumstände passen jedoch nicht recht zu dieser Theorie: Weder findet man einen Abschiedsbrief, noch gibt es Anzeichen dafür, dass sie ins nahegelegene Gewässer gegangen ist. Im Gegenteil deuten manche Spuren darauf hin, dass der Wagen mit Absicht in Szene gesetzt wurde. Ein Zeuge berichtet später, der Wagen habe keinen Gang eingelegt gehabt und wirkte platziert, als sei er den Hang einfach hinabgerollt​. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Agatha Christie ist verschwunden – wie vom Erdboden verschluckt.

Eine beispiellose Suchaktion

Die Nachricht vom mysteriösen Verschwinden der bekannten Kriminalautorin verbreitet sich rasch. Was zunächst wie ein lokaler Vermisstenfall beginnt, entwickelt sich binnen Stunden zu einem landesweiten Ereignis. Schon am 4. Dezember wird eine großangelegte Suche gestartet. In den folgenden Tagen durchkämmen insgesamt 53 Suchtrupps – bestehend aus mehr als tausend Polizisten und bis zu 15.000 Freiwilligen – das unwegsame Gelände in Surrey​. Es ist eine der größten Suchaktionen, die Großbritannien bis dahin erlebt hat​. Sogar Flugzeuge werden (zum ersten Mal in einem solchen Fall) eingesetzt, um die weiten Wälder und Hügel aus der Luft abzusuchen​. Die Helfer bilden Menschenketten, waten Schulter an Schulter durch Sümpfe und Dickicht und hoffen, irgendeine Spur der Vermissten zu finden​​. Taucher und Feuerwehrleute durchsuchen Brunnen und Teiche in der Umgebung; der Silent Pool wird aus Sorge, Christie könnte dort hineingestürzt sein, von Einsatzkräften ausgebaggert​. Doch weder in dem dunklen Wasser noch in den Wäldern findet sich ein Hinweis auf Agathas Verbleib.

Währenddessen wird die Vermisstensuche von den Medien aufmerksam verfolgt. Zeitungen im ganzen Land – und bald auch international – berichten täglich auf ihren Titelseiten über den Fall. Das öffentliche Interesse ist enorm, denn es scheint, als sei Christie in einem ihrer eigenen Krimis verschwunden. Die Presse spekuliert wild: Manche Blätter stellen die Entführungsthese auf, andere insinuieren ein Ehedrama. Die Daily News etwa vermutet, die Schriftstellerin habe sich verkleidet und sei unter falscher Identität untergetaucht​. Mehrere Zeitungen setzen Belohnungen für Hinweise aus; so lobt die Daily News 100 Pfund für Informationen aus, die zu Christies Auffinden führen​. Sogar die Regierung mischt sich ein: Der britische Innenminister William Joynson-Hicks drängt die Behörden, alles Erdenkliche zu tun, um die berühmte Autorin zu finden​.

Archie Christie unter Verdacht

Natürlich gerät auch Agathas Ehemann ins Visier. Archie erfährt von ihrem Verschwinden während seines Wochenendausflugs und kehrt angeblich schockiert sofort nach Hause zurück​. Er gibt an, seine Frau sei überarbeitet und psychisch angeschlagen gewesen – er fürchtet, sie könne sich etwas angetan haben​. Doch die Polizei hakt nach: Warum hat Archie der Polizei zunächst verschwiegen, dass Agatha ihm einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte? Und warum hat er diesen Brief verbrannt​? Das Verhalten des Ehemanns wirkt verdächtig, und in Fällen vermisster Frauen wird traditionell der Partner genau überprüft. Könnte Archie etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben? Hatte es womöglich einen Streit gegeben, der eskalierte? Diese Fragen stehen im Raum, während die Suchaktion weiterläuft. Es gibt sogar Stimmen, die mutmaßen, Archie könnte Agatha getötet und das Auto-Drama inszeniert haben, um von sich abzulenken​. Konkrete Beweise dafür fehlen allerdings.

Ungewöhnliche Hilfe

Inmitten der fieberhaften Suche greift ein berühmter Zeitgenosse zu unkonventionellen Mitteln. Sir Arthur Conan Doyle – der Schöpfer von Sherlock Holmes – ist nicht nur ein Kollegenfreund Christies, sondern auch ein begeisterter Spiritist. In seiner Verzweiflung wendet er sich an ein Medium und übergibt ihm einen von Agathas Handschuhen, um darüber einen Eindruck ihres Aufenthaltsorts zu gewinnen​. Der Hellseher “fühlt” angeblich, dass die Besitzerin des Handschuhs noch lebt, aber unter großer seelischer Belastung steht​. Auch wenn diese übersinnliche Spur keine konkrete Auflösung bringt, schafft es der Fall Christie endgültig auf die Schlagzeilen aller Klatschblätter. Die ganze Nation rätselt: Wo ist Agatha Christie? Lebend oder tot? Opfer oder Täterin im eigenen Drama?

Trotz aller Anstrengungen bleibt die Suche tagelang erfolglos. Bis zum 13. Dezember – mittlerweile mehr als eine Woche nach ihrem Verschwinden – gibt es keine verlässliche Sichtung der Bestsellerautorin​​. Die Stimmung bei den Ermittlern wird zunehmend düster. Einige Polizeibeamte halten inzwischen einen Suizid für wahrscheinlich​. Andere wiederum glauben, Christie könnte in Verkleidung durchs Land reisen​. Die Ungewissheit bringt immer neue Hypothesen hervor, doch keine führt zum Ziel. Da meldet sich am 14. Dezember plötzlich ein Zeuge mit einer verblüffenden Nachricht, die den Fall auflöst.

Wiederentdeckung in einem Harrogate-Hotel

Elf Tage nach Agatha Christies Verschwinden kommt es zur unerwarteten Wendung: Die „Vermisste“ wird quicklebendig in einem Hotel gefunden – und das über 300 Kilometer von der Stelle entfernt, wo ihr Auto stand. Im Swan Hydropathic Hotel im Kurort Harrogate (Grafschaft Yorkshire) hat der Leitkellner einen Gast erkannt, der der Beschreibung der verschwundenen Agatha Christie verblüffend ähnelt​. Die Frau gibt sich im Hotel allerdings unter falschem Namen aus: Sie hat am 4. Dezember – also unmittelbar nach ihrem Aufbruch – unter dem Namen Theresa Neele eingecheckt. Dieser Name lässt aufhorchen, denn Neele ist zufällig der Nachname von Archies Geliebter Nancy. Im Gästebuch trägt sie sich als „Mrs. Teresa Neele, Kapstadt“ ein und behauptet, aus Südafrika zu stammen​. Unter diesem Alias genießt sie in Harrogate ungestört den Luxus des Kurhotels: Zeugen berichten, die vermeintliche Südafrikanerin habe fröhlich an den abendlichen Tanzveranstaltungen teilgenommen, ausgelassen Charleston getanzt und gesungen​– von Kummer oder Orientierungslosigkeit also keine Spur.

Als die Polizei und Archie Christie nach Harrogate eilen, um der Sache nachzugehen, bietet sich ein fast filmszenenreifes Bild. Im Speisesaal des Hotels sitzt tatsächlich Agatha Christie – sie liest seelenruhig eine Zeitung, in der groß über ihr eigenes Verschwinden berichtet wird​. Archie tritt zögernd an sie heran. Augenzeugen zufolge reagiert Agatha verwirrt und erkennt ihren Ehemann nicht sofort​. Sie wirkt desorientiert, aber körperlich unversehrt. Die Polizei bestätigt ihre Identität, und der „Fall Christie“ scheint gelöst: Die Vermisste lebt.

Öffentlich atmet man auf – doch zugleich entstehen neue Fragen: Was ist in diesen elf Tagen wirklich geschehen? Warum ist Agatha Christie unter falschem Namen in einem Kurhotel abgestiegen, während das ganze Land nach ihr suchte? Und litt sie tatsächlich unter Gedächtnisverlust, wie sie nun behauptet?

Rätselraten: Mögliche Motive und Theorien

Direkt nach ihrem Auffinden gibt Agatha Christie wenig Aufschluss über ihre Beweggründe. Laut ihrem Ehemann befindet sie sich in einem Zustand von Amnesie, einer Gedächtnisstörung, und wisse nicht mehr, wer sie sei​. Zwei hinzugezogene Ärzte untersuchen Christie und bestätigen angeblich eine Art lückenhafte Erinnerung oder psychischen Schock​. Agatha selbst macht in der Öffentlichkeit keine klare Aussage zu den Ereignissen. In den nächsten Tagen wird sie abgeschirmt und erholt sich bei Verwandten. Schließlich kehrt sie ins Privatleben zurück, ohne den Medien oder den Fans das ersehnte Geständnis zu liefern. Dieses Schweigen trägt nur noch mehr zum Mythos bei. Bis heute hat Agatha Christie – weder mündlich noch schriftlich – je erklärt, was sie in jenen elf Tagen durchlebt hat; in ihrer posthum veröffentlichten Autobiografie verliert sie darüber kein Wort​.

Seit 1926 haben Biografen, Historiker und Christie-Enthusiasten zahlreiche Theorien aufgestellt, um das Motiv für ihr Verschwinden zu erklären. Im Wesentlichen lassen sich drei Szenarien ausmachen:

1.    Nervenzusammenbruch und Fugue-State:

Die am weitesten verbreitete Erklärung ist, dass Agatha Christie einen psychischen Zusammenbruch erlitt. Die Kombination aus dem Tod der Mutter, dem Betrug ihres Mannes und der Überarbeitung durch ihren schriftstellerischen Erfolg könnte sie in einen Ausnahmezustand versetzt haben​​. Moderne Psychiater würden vielleicht von einer psychogenen Fugue (einem Dämmerzustand mit Fluchtverhalten) sprechen​. In einem solchen Zustand, ausgelöst durch Trauma oder Depression, verlieren Betroffene zeitweise ihr Gedächtnis und ihre Identität, können aber erstaunlich zielgerichtet handeln. Agatha fuhr demnach orientierungslos weg, hatte möglicherweise einen leichten Unfall, und irrte dann in geistiger Umnachtung nach Harrogate. Dort erfand sie eine neue Identität („Mrs. Neele“) und lebte einige Tage als jemand anders – frei von den Problemen der echten Agatha. Diese Theorie wird durch ihr beobachtetes Verhalten gestützt (scheinbare Desorientierung beim Wiedersehen mit Archie) und durch ihre eigene Aussage gegenüber Ärzten, sie wisse nicht, wie sie dorthin gelangt sei. Auch Historiker wie Lucy Worsley vertreten heute die Ansicht, Christie habe infolge der emotionalen Erschütterungen vorübergehend den Bezug zur Realität verloren. Ihr vermeintlich fröhliches Auftreten im Hotel erklärt diese Sichtweise als Teil der Amnesie: Agatha hatte sich in die Rolle der Teresa Neele „geflüchtet“ und darin eine kurzfristige Zufriedenheit gefunden, weil sie die schmerzliche Wahrheit verdrängte.

2.    Geplante Racheaktion am Ehemann

Eine andere Theorie unterstellt Agatha Christie sehr wohl klare Absichten – nämlich Rache an ihrem untreuen Mann. Befürworter dieser Hypothese glauben, die raffinierte Krimi-Autorin habe ihren eigenen Kriminalfall inszeniert, um Archie Christie bloßzustellen oder gar in Verdacht zu bringen​. Indizien gibt es: Sie wählt als Decknamen ausgerechnet den Nachnamen von Archies Geliebter, was kaum als Zufall gewertet wird​. Hätte Agatha sich nie wieder gezeigt, wäre Archie wegen der offenen Affäre schnell als Hauptverdächtiger einer möglichen Gewalttat gegen seine Frau ins Gerede gekommen. Tatsächlich richtete sich der öffentliche Argwohn während der Suchphase ja auch gegen ihn. Dieser Theorie zufolge wollte Agatha ihren Mann zumindest das Fürchten lehren – ihm ein Gefühl dafür geben, wie es wäre, als „Mörder“ dazustehen. Möglicherweise hoffte sie sogar, Archie würde das Wochenende mit der Geliebten durch die Alarmmeldung verdorben. Die Tatsache, dass sie ihr Verschwinden an einem Freitagabend inszenierte, kurz nachdem Archie zu seiner Verabredung mit Nancy aufgebrochen war, könnte hierfür sprechen​. Kritiker dieser These wenden jedoch ein, dass eine solche bewusste Täuschung von langer Hand geplant sein müsste – und das bei einer Frau in nachweislich angeschlagenem Gemütszustand. Zudem hätte Agatha dafür sorgen müssen, nicht erkannt zu werden, was mit ihrem prominenten Gesicht schwierig war. Tatsächlich wurde sie ja erkannt. Diese Rache-Theorie bleibt daher spekulativ. Einige Biografen, wie Jared Cade, haben jedoch Indizien zusammengetragen, die auf eine gezielte Aktion hindeuten, etwa den ungewöhnlich platzierten Wagen und die verbrannten Briefe​. Ob Agatha Christie wirklich so kaltblütig ihren eigenen Tod vortäuschte, um Archie eins auszuwischen, ist bis heute umstritten.

3.    Publicity-Stunt oder Flucht vor dem Ruhm

Eine weitere Spekulation lautet, Agatha Christie habe die ganze Aktion lediglich als PR-Maßnahme inszeniert, um die Verkaufszahlen ihrer Bücher zu steigern oder Aufmerksamkeit zu erlangen​. Immerhin verwandelte das Medienspektakel sie quasi über Nacht von einer bekannten Autorin in einen internationalen Star​. Man könnte vermuten, dass sie das bewusst einkalkulierte. Allerdings halten diejenigen, die Agatha Christies Charakter studiert haben, dies für wenig plausibel. Die Schriftstellerin war bis dahin eher publicity-scheu und hätte kaum die Demütigung in Kauf genommen, als Vermisste dazustehen, nur um Schlagzeilen zu machen. Außerdem war sie zum Zeitpunkt des Verschwindens bereits erfolgreich genug, um ihrer Karriere keinen solchen künstlichen Schub geben zu müssen. Nahestehende bestritten entschieden, dass die sensible Agatha zu einem derartigen Täuschungsmanöver fähig gewesen wäre. Auch die Historikerin Lucy Worsley argumentiert, es sei unfair, Christie als „böse Trickspielerin“ darzustellen; viel naheliegender sei eine ernsthafte mentale Krise gewesen​. Die PR-Theorie wird daher von den meisten Experten verworfen.

Neben diesen Haupttheorien gab es noch weitere Mutmaßungen. So wurde anfänglich ein Suizidversuch diskutiert – etwa, dass Christie in der Nähe ihres Autos ins Wasser ging, dann aber zurückkehrte und verwirrt umherirrte. Diese Idee passt jedoch nicht zu ihrem schließlich recht geordneten Auftreten in Harrogate. Auch ein wirklicher Unfall mit folgendem Gedächtnisverlust (etwa durch Kopfverletzung beim Autocrash) wurde erwogen; Agatha könnte unter Schock getrampt oder mit dem Zug gereist sein, ohne sich zu erinnern. Doch warum wählte sie dann gezielt den Namen Neele beim Check-in? Schließlich könnte man auch eine Entführung oder Einmischung Dritter fantasieren – doch dafür gab es nie einen Anhaltspunkt. So bleibt festzuhalten: Welche Erklärung man auch bevorzugt, keiner Theorie lässt sich abschließend beweisen oder widerlegen. Agatha Christie selbst nahm das Geheimnis mit ins Grab.

Nachspiel: Trennung und neues Glück

Nach ihrem Wiederauftauchen zog sich Agatha Christie rasch aus der Öffentlichkeit zurück. Die Öffentlichkeit war erleichtert, aber auch neugierig und teils verärgert über den Aufwand der Suche. Es gab Debatten, wer die Kosten der gigantischen Suchaktion tragen solle; einige meinten, Agatha müsse dafür aufkommen​. Archie Christie wehrte sich gar juristisch dagegen, für Polizeikosten belangt zu werden​. Zwischen Agatha und Archie war das Vertrauensverhältnis endgültig zerstört. Wenige Monate später – im Jahr 1928 – wurde die Ehe Christie einvernehmlich geschieden. Archie heiratete bald darauf seine Geliebte Nancy Neele. Agatha hingegen fand neues Glück: 1930 vermählte sie sich mit dem Archäologen Max Mallowan, mit dem sie bis zu ihrem Tod zusammenblieb.

Das Jahr 1926 und sein persönliches Drama ließ Agatha Christie hinter sich, zumindest äußerlich. In den folgenden Jahrzehnten konzentrierte sie sich auf ihre schriftstellerische Arbeit und erreichte Erfolge ungekannten Ausmaßes. Sie erfand mit Miss Marple eine weitere ikonische Detektivfigur, schrieb Bestseller um Bestseller und wurde zur meistgelesenen Autorin der Weltliteratur (ihre Werke werden – so heißt es oft – nur von der Bibel und Shakespeare in der Auflage übertroffen). 1971 wurde sie für ihre Verdienste sogar in den Adelsstand erhoben und durfte sich fortan Dame Agatha Christie nennen. Am 12. Januar 1976 starb sie im Alter von 85 Jahren eines natürlichen Todes. Doch trotz ihres reichen Lebenswerks und zahlreicher Biografien blieb eine Episode ihres Lebens bis zuletzt ausgespart und ungeklärt: die verschwundenen elf Tage des Jahres 1926. Weder in Interviews noch in ihren Memoiren brach Agatha Christie jemals das Schweigen über dieses Mysterium​.

Verschwinden von Agatha Christie: ein ungelöstes Rätsel

Und so bleibt das Verschwinden der Agatha Christie bis heute ein ungelöstes Rätsel – ganz so, wie es die Meisterdetektive ihrer Romane lieben. War es ein tragischer mentaler Aussetzer oder eine wohlüberlegte Inszenierung? Die Wahrheit kennt nur Agatha Christie selbst. Ihr Fall ist zum Mythos geworden, der immer neue Fragen aufwirft und Stoff für Bücher, Dokumentationen und Verfilmungen liefert. Eines aber steht fest: Agatha Christies eigenes Leben enthielt einen Kriminalfall, der an Spannung und Intrige ihren fiktiven Geschichten in nichts nachsteht. Der Unterschied: In diesem realen Krimi fehlt uns bis heute der finale Schlussakkord – die Auflösung.