
Als die 19-jährige Sonya Ivanoff im August 2003 spurlos verschwindet, glaubt in der kleinen Stadt Nome kaum jemand an ein Verbrechen. Erst Tage später wird ihre Leiche gefunden – und mit ihr das Gesicht eines Mörders, der schockierender nicht sein könnte. Ein Polizist. Ein Mann in Uniform. Ein Täter, der zu den Beschützern zählte.
Nome, Alaska – ein abgelegenes Städtchen am nördlichen Ende der Welt. 3.800 Menschen leben hier, eingebettet zwischen Tundra, Ozean und Eis. Es gibt nur wenige Straßen, keine Ampeln – aber dafür das Gefühl, jeden zu kennen. Verbrechen? Kaum der Rede wert.
Am Abend des 10. August 2003 sitzen Sonya Ivanoff und ihre beste Freundin Timayre Towarak mit Freunden zusammen, lachen, spielen Brettspiele. Gegen 1 Uhr morgens trennen sich ihre Wege. Timayre übernachtet bei einem Bekannten, Sonya will den kurzen Weg nach Hause gehen. Es regnet in Strömen, aber für die beiden jungen Frauen ist das kein Grund zur Sorge – Nome gilt als sicher, fast schon familiär.
Sonya ist in ihrem neuen Leben angekommen. Aufgewachsen in dem kleinen Dorf Unalakleet, hatte sie sich nach der Highschool entschlossen, in Nome zu arbeiten und zu sparen – für ein Studium auf Hawaii. Ihr Job am Empfang des örtlichen Krankenhauses ist mehr als nur eine Übergangslösung. Es ist ihr Sprungbrett.
Doch in dieser Nacht kommt sie nie zu Hause an.
Als Timayre am nächsten Morgen in die gemeinsame Wohnung zurückkehrt, ist Sonya nicht da. Zunächst macht sie sich keine großen Sorgen – vielleicht hat Sonya bei Freunden übernachtet. Doch am Abend ist sie immer noch nicht aufgetaucht. Die Unruhe wächst zur Panik.
Als Timayre die Polizei aufsucht, stößt sie auf Gleichgültigkeit. Die Beamten spielen ihre Sorge herunter, versichern, Sonya werde „schon wieder auftauchen“. Es ist die frühe 2000er-Zeit, die noch ohne allgegenwärtige Handys auskommt. Doch was wie eine harmlose Unzuverlässigkeit wirkt, ist in Wahrheit das Vorzeichen einer Tragödie.
Am nächsten Tag wird auch das Krankenhaus misstrauisch – Sonya erscheint nicht zur Arbeit. Erst jetzt beginnen die Behörden zu handeln.
Am Abend des 12. August entdeckt ein freiwilliger Feuerwehrmann frische Reifenspuren auf einem abgelegenen Pfad außerhalb der Stadt. Neugierig folgt er ihnen – und macht eine grausame Entdeckung: eine nackte Frauenleiche. Es ist Sonya Ivanoff.
Sie liegt mit dem Gesicht zur Erde, nur eine Socke an einem Fuß. Der Körper zeigt Hämatome, die auf massive Gewalt hindeuten. Die Obduktion bringt die schockierende Wahrheit ans Licht: ein einzelner, gezielter Schuss in den Hinterkopf. Eine Hinrichtung.
Ihre Kleidung ist verschwunden. DNA-Spuren? Kaum verwertbar – der Regen der letzten Tage hat die meisten Spuren weggespült. Alles, was bleibt, sind Reifenspuren mit einem auffälligen Detail: Die Reifen sind nicht identisch. Und ein blauer Farbfleck auf einem Ast. Ein winziger Hinweis. Aber wohin führt er?
Zunächst richten sich die Ermittlungen gegen einen jungen Mann namens „Koonuk“, einen Freund von Sonya, der einen blauen Truck fährt – mit unterschiedlichen Reifen. Auch Blutspuren werden in seinem Fahrzeug gefunden. Doch bald zeigt sich: Das Blut stammt von einem erlegten Tier, nicht von einem Menschen. Koonuk war zur Tatzeit mit Freunden auf der Jagd – 70 Meilen entfernt. Er ist unschuldig.
Die Ermittler tappen im Dunkeln – bis ein übersehener Hinweis das Blatt wendet. Eine Zeugin hatte ausgesagt, dass sie Sonya in jener Nacht noch gesehen habe. Und sie sah, wie ein Polizeiwagen neben ihr hielt. Sonya sprach kurz mit dem Fahrer – und stieg ein.
Nur zwei Polizeibeamte waren in jener Nacht im Dienst: Stan Piscoya und Matthew Owens. Beide werden befragt – doch bevor sie ihre Aussagen abgeben können, geschieht Merkwürdiges. Einer der Polizeiwagen verschwindet. Später wird er auf einem Hügel nahe dem Tatort gefunden – beschädigt, mit einer zerschlagenen Scheibe. Im Inneren: ein Drohbrief, unterschrieben mit „Ich hasse Cops“, und Sonya Ivanoffs Ausweis.
Die Ermittler vermuten schnell: Der Täter ist kein Cop-Hasser – er ist selbst ein Cop. Der Brief soll verwirren, falsche Spuren legen. Und nur ein Insider könnte Zugang zu Polizeifahrzeugen und Beweismaterial haben. Die Spur führt zu Matthew Owens.
Was zunächst kaum jemand glauben kann, entpuppt sich als schockierende Realität: Owens hat während seiner Nachtschichten regelmäßig Frauen angesprochen, sie in sein Polizeifahrzeug gelockt und zu entlegenen Orten gefahren. Mehrere indigene Frauen melden sich und berichten unabhängig voneinander von sexuellen Übergriffen. Er habe sie eingeschüchtert, ihnen mit seiner Dienstwaffe gedroht. Eine sagte: „Er sagte, niemand würde mir glauben – ich sei nur eine Indianerin.“
Auch Owens’ Ex-Frau meldet sich. Am Tag von Sonyas Verschwinden bat er sie, den gemeinsamen Sohn zu übernehmen, da er „wegen einer vermissten Frau“ zum Dienst müsse – noch bevor Sonya offiziell als vermisst galt.
Wo ist Sonyas Kleidung? Die Antwort finden Ermittler Wochen später in einem abgelegenen Jagdcamp, das Owens häufig besuchte. In einer Feuerstelle entdecken sie verkohlte Stoffreste – darunter eine Schuhöse und Knöpfe, identisch mit Sonya Ivanoffs Kleidung.
Doch obwohl die Indizien erdrückend sind, platzt der erste Prozess. Einige Jury-Mitglieder stammen aus Nome – und kennen Owens persönlich. Das Urteil: unentschieden.
Im zweiten Verfahren, das außerhalb Nomes geführt wird, gibt es kein Entkommen mehr. Nach 47 Verhandlungstagen wird Matthew Owens 2005 des Mordes an Sonya Ivanoff schuldig gesprochen. Lebenslange Haft.
Für die Menschen in Nome ist es mehr als nur ein Mordfall. Es ist der Zusammenbruch eines Vertrauensverhältnisses. Ein Polizist – einer von ihnen – hat die Uniform benutzt, um zu jagen, zu verletzen, zu töten.
„Evil comes in different forms“, sagt Tom Mostoller, Sonyas Schwager. „Manchmal trägt es eine Marke. Eine Waffe. Ein Dienstabzeichen.“
Der Fall Ivanoff hat Nome verändert. Die Frage nach strukturellem Rassismus, nach der Sicherheit indigener Frauen, nach ungleichem Schutz durch die Justiz – sie steht bis heute unbeantwortet im Raum.
Sonya wollte raus aus der Kälte Alaskas, hinaus in die Welt, vielleicht nach Hawaii, vielleicht weiter. Sie träumte von mehr. Ihr Tod ist nicht nur die Geschichte eines Einzeltäters – es ist ein Lehrstück über Machtmissbrauch, Ignoranz und die tödlichen Konsequenzen, wenn Täter in Uniform handeln dürfen. Ein Gedenkstein erinnert heute an Sonya. Doch ihr Name steht für mehr: für alle, deren Stimme zu leise ist. Für alle, denen man nicht glaubt. Für alle, die Gerechtigkeit nur posthum erfahren.