Die spektakulärsten Gefängnisausbrüche Europas und das Vermächtnis der Paleokostas Brüder

Korydallos Gefängnis bei Athen. Hier war Nikos Paleokostas inhaftiert.
Gefängnis in Korydallos: tsiros, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Aufstieg zweier Outlaws: Kindheit im Schatten der Berge

In den abgelegenen Hügellandschaften der griechischen Region Thessalien, genauer gesagt im kleinen Dorf Moschofyto nahe Trikala, wuchsen in den 1960er- und 70er-Jahren zwei Brüder auf, die später als „die Paleokostas-Brüder“ zu nationaler Berühmtheit gelangen sollten: Vassilis Paleokostas, geboren 1966, und sein älterer Bruder Nikos. Die beiden stammten aus einfachen Verhältnissen. Ihr Vater war Landarbeiter, die Mutter kümmerte sich um den Hof und die Familie. In der Zeit der griechischen Militärdiktatur (1967–1974) erlebten sie, wie politische Willkür und wirtschaftliche Ungleichheit das Leben der Menschen bestimmten. Diese Erfahrungen legten den Grundstein für ein tiefes Misstrauen gegenüber Autorität und Macht.

Während viele Gleichaltrige in die Städte zogen, um Arbeit zu finden, suchten Vassilis und Nikos nach einem anderen Weg. Ihre ersten Delikte, kleinere Diebstähle und Überfälle, blieben lange unentdeckt. Doch mit den Jahren entwickelten sie eine immer professionellere Vorgehensweise. Sie studierten Fluchtwege, legten falsche Spuren und planten bis ins kleinste Detail. Aus den Dorfjungen wurden Meisterstrategen der Unterwelt. Besonders Vassilis, charismatisch und kompromisslos, galt bald als eine Art moderner Robin Hood: Er raubte Banken aus, soll einen Teil der Beute an Bedürftige verteilt und Familien geholfen haben, die von der Krise besonders betroffen waren. Ob Legende oder Wahrheit. Diese Erzählung prägte das Bild, das bis heute mit seinem Namen verbunden ist.

1995: Die erste Entführung und Nikos’ Inhaftierung

Der Name Paleokostas taucht erstmals 1995 in ganz Griechenland in den Schlagzeilen auf. Der Unternehmer Alexander Haitoglou, Inhaber einer großen Lebensmittelkette, wird entführt. Die Aktion verläuft präzise: keine Gewalt, keine unnötige Aufmerksamkeit, ein Lösegeld und ein unversehrter Unternehmer, der nach Tagen freikommt. Die Polizei erkennt die Handschrift erfahrener Täter. Bald fällt der Verdacht auf Vassilis und Nikos Paleokostas. Während Vassilis untertaucht, wird Nikos gefasst und später zu einer langen Haftstrafe verurteilt, wegen Entführung, bewaffneten Raubs und Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Für Nikos beginnt damit ein Leben hinter Mauern, das ihn bis zu seinem Tod begleiten wird. Doch auch aus dem Gefängnis bleibt er aktiv. Zeitzeugen berichten, er habe andere Häftlinge unterstützt, mit ihnen Geld geteilt und Informationen geschmuggelt. Es kursieren Gerüchte, dass er seinem Bruder bei späteren Aktionen logistische Hilfe leistete. In der Öffentlichkeit gilt er als kühler Denker, während Vassilis zum Gesicht der Bewegung wird. Die Entführung von Haitoglou markiert den Wendepunkt: Aus regional gesuchten Kriminellen werden nationale Figuren, verhasst von der Polizei, aber bewundert von vielen einfachen Bürgern.

2006: Der erste Helikopterausbruch

4. Juni 2006. Im Hochsicherheitsgefängnis Korydallos bei Athen läuft der Vormittag wie gewohnt ab. Wärter patrouillieren, Insassen sitzen im Hof, der Alltag scheint ruhig. Doch wenige Minuten später soll sich eine der spektakulärsten Gefängnisfluchten Europas ereignen. Am Himmel erscheint plötzlich ein Helikopter, der in geringer Höhe über den Gefängnishof fliegt. Niemand ahnt, dass an Bord Komplizen sitzen, die einen präzise geplanten Befreiungsversuch durchführen wollen. Eine Strickleiter wird abgeworfen – und unten reagieren zwei Männer blitzschnell: Vassilis Paleokostas und der albanische Häftling Alket Rizai.

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Unter den Augen der überraschten Wärter greifen beide nach der Leiter und beginnen, sie hinaufzuklettern. Wachen rufen Alarm, doch keiner wagt zu schießen – die Szene ist zu unwirklich, zu riskant. Binnen weniger Augenblicke verschwinden Paleokostas und Rizai über der Gefängnismauer. Der Helikopter steigt auf und fliegt davon, während unten Chaos ausbricht. Die gesamte Aktion dauert kaum drei Minuten. Später wird bekannt, dass die Piloten unter Waffengewalt gezwungen wurden, den Flug auszuführen.

Was folgt, ist eine nationale Blamage. Medien sprechen vom „griechischen Houdini“, Zeitungen titeln über den „Robin Hood der Berge“. Die Polizei leitet eine landesweite Fahndung ein, durchsucht Tunnel, Landstraßen und Bergdörfer – erfolglos. Wochenlang wird über Helfer und geheime Verstecke spekuliert. Der Ausbruch gilt bis heute als einer der kühnsten Europas. Doch niemand ahnt, dass derselbe Mann nur drei Jahre später denselben Plan noch einmal wagen wird – mit noch größerem Risiko.

2008: Die Entführung von Giorgos Mylonas

Zwei Jahre nach seiner Flucht taucht der Name Paleokostas erneut in den Schlagzeilen auf. Im Sommer 2008 wird der Industrielle Giorgos Mylonas, Chef eines Aluminiumunternehmens, in Thessaloniki entführt. Die Täter agieren mit militärischer Präzision. Mylonas wird wochenlang in einem abgelegenen Versteck festgehalten, bevor seine Familie ein mutmaßlich zweistelliges Millionenlösegeld zahlt. Der Unternehmer wird unversehrt freigelassen, doch die Polizei steht unter massivem Druck. Ein anonymer Hinweis führt schließlich zu einem Unterschlupf in Nordgriechenland. Dort stoßen Ermittler auf Fingerabdrücke und persönliche Gegenstände von Vassilis Paleokostas.

Im August 2008 gelingt seine Festnahme. Griechenland atmet auf. Der „Unfassbare“ ist zurück hinter Gittern. Politik und Polizei feiern den Erfolg, Medien überschlagen sich mit Schlagzeilen. Doch während der Staat triumphiert, bleibt Vassilis ruhig. In Interviews betont er, er habe nie Unschuldige verletzt, sondern nur gegen ein ungerechtes System gekämpft. Seine Anhänger glauben ihm – und ahnen nicht, dass er schon an seinem nächsten Ausbruch arbeitet.

2009: Der zweite Ausbruch

22. Februar 2009. Über Athen kreist ein Helikopter – wieder über dem Gefängnis Korydallos. Die Wachen sind gewarnt, sie wissen: So etwas darf kein zweites Mal passieren. Doch genau das geschieht. Während Alarme heulen, senkt sich die Maschine über den Hof. Eine Strickleiter wird abgeworfen, und erneut packt Vassilis Paleokostas zu. Diesmal begleitet ihn der albanische Verbrecher Alket Rizai. Die Wärter schießen, Projektile schlagen in die Mauern, doch die beiden klettern unbeirrt weiter. Sekunden später verschwinden sie im Lärm der Rotorblätter.

Der Helikopter wird später leer auf einem Feld gefunden – die Männer bleiben verschwunden. Der Ausbruch gilt bis heute als eine der größten Blamagen der griechischen Justizgeschichte. Regierungsvertreter treten zurück, Medien sprechen von „Staatsversagen“. Doch im Volk wächst der Mythos. Zweimal aus demselben Gefängnis, zweimal per Helikopter: Vassilis Paleokostas wird zur Legende. Und diesmal wird ihn niemand mehr finden.

Leben im Untergrund – zwischen Mythos und Wirklichkeit

Seit seiner zweiten Flucht im Februar 2009 ist Vassilis Paleokostas spurlos verschwunden. Trotz internationaler Haftbefehle und eines Kopfgeldes von einer Million Euro konnte er nie gefasst werden. Manche glauben, er lebe abgeschieden in den Bergen Thessaliens, andere vermuten ihn längst im Ausland. Immer wieder tauchen Gerüchte auf – ein Mann, der ihm ähnlich sieht, ein Hinweis aus Albanien, ein mysteriöser Brief. Nichts davon führt zum Erfolg. Vassilis bleibt ein Phantom.

2021 erscheint seine Autobiografie „A Normal Life“, die offenbar aus dem Untergrund heraus entstand. Darin beschreibt er sich als politischen Rebell, der gegen Korruption und soziale Ungerechtigkeit kämpfte. Kritiker werfen ihm Selbstinszenierung vor, Fans sehen in ihm den letzten echten Volkshelden Griechenlands. In Dokus, Podcasts und Büchern lebt seine Geschichte weiter – irgendwo zwischen Fakt, Fiktion und Faszination. Der Mann, der zweimal aus dem „griechischen Alcatraz“ floh, ist längst zu einer Legende geworden.

Nikos Paleokostas: Der stille Bruder und sein Ende

Während Vassilis für immer untertaucht, bleibt Nikos Paleokostas ein Leben lang hinter Gittern. Er gilt als der ruhigere, strategisch denkende Bruder, weniger charismatisch, aber ebenso entschlossen. Im Gefängnis von Trikala verbringt er Jahrzehnte seines Lebens. Er schreibt, hilft Mitgefangenen und schweigt über die Pläne seines Bruders. Beobachter nennen ihn den „stillen Kopf“ des Duos. Seine Beteiligung an den Ausbrüchen von 2006 gilt als wahrscheinlich, wurde aber nie bewiesen.

In den letzten Jahren verschlechtert sich sein Gesundheitszustand rapide. Nach mehreren Krankenhausaufenthalten stirbt Nikos am 26. April 2025 im Alter von 65 Jahren in Trikala. Sein Tod markiert das Ende eines Kapitels, aber nicht das Ende der Geschichte. Denn irgendwo, so glauben viele, lebt Vassilis noch immer: vielleicht versteckt, vielleicht längst frei. Die Paleokostas-Brüder bleiben bis heute Symbolfiguren für Rebellion, Freiheit und den ewigen Kampf gegen ein System, das sie nie akzeptieren wollten.