Medikamentenmissbrauch in Tecklenburger Mädchenheim: Studie deckt Unrecht auf

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Foto: Edward Lich

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Zehntausende Kinder in nordrhein-westfälischen Heimen, Kliniken und Kurhäusern sind zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den 1980er-Jahren mit Medikamenten behandelt oder ruhiggestellt worden – ohne medizinische Notwendigkeit. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie im Auftrag des NRW-Gesundheitsministeriums, die der Düsseldorfer Medizinhistoriker Prof. Heiner Fangerau mit seinem Team erarbeitet hat.
Demnach waren landesweit bis zu 125.000 Kinder von Medikamentenversuchen, überdosierten Neuroleptika, Hormonpräparaten oder zweifelhaften Impfungen betroffen. Die Forschenden sprechen von einem flächendeckenden Phänomen, das viele Einrichtungen und Träger betraf – von kirchlichen Heimen über psychiatrische Kliniken bis zu staatlich beaufsichtigten Kurhäusern.

Heim „Im Sonnenwinkel“ in Tecklenburg betroffen

Auch das ehemalige Mädchenheim „Im Sonnenwinkel“ in Tecklenburg wird in der Studie ausdrücklich genannt. Die Einrichtung bot rund 70 Mädchen Platz und befand sich zunächst in Trägerschaft des Vereins „Evangelische Männer-, Frauen- und Mädchenheime in der Evangelischen Kirche von Westfalen“, später unter Verantwortung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL).
In Archivakten fanden die Wissenschaftler Belege für den missbräuchlichen Einsatz von Medikamenten, mit denen Bewohnerinnen ruhiggestellt wurden. Es gab keine ärztliche Indikation für die Verabreichung. Unter den eingesetzten Präparaten befand sich auch das Hormonmittel Duogynon, das damals bereits als riskant galt und später mit Fehlbildungen bei Neugeborenen in Verbindung gebracht wurde.

Duogynon: Medikament mit riskanter Geschichte

Duogynon wurde ursprünglich als Hormonpräparat entwickelt, diente in den 1960er- und 1970er-Jahren aber häufig als sogenannter „Schwangerschaftstest“. Wer nach Einnahme keine Blutung bekam, galt als schwanger – ein Verfahren, das schon früh als gefährlich galt. Fachärzte warnten bereits Mitte der 1950er-Jahre vor einer möglichen abtreibenden Wirkung des Präparats.
In Tecklenburg wurde Duogynon laut Studie mindestens einem minderjährigen Mädchen verabreicht, ohne dass eine ärztliche Notwendigkeit bestand. Die Folgen sind unklar. Die Forscher betonen, dass der kausale Zusammenhang zwischen dem Präparat und Fehlbildungen bis heute wissenschaftlich nicht zweifelsfrei belegt ist – wohl aber der Verstoß gegen medizinische Standards jener Zeit.

Unzureichende Aufsicht von Land und Trägern

Die Studie kritisiert, dass das Land Nordrhein-Westfalen, die Kirchen und die Landschaftsverbände ihre Aufsichtspflichten nur unzureichend wahrgenommen hätten. Medikamentenvergabe sei häufig dokumentiert, aber nie systematisch kontrolliert worden. In Einrichtungen wie dem Heim in Tecklenburg hätten Pflegekräfte und Diakonissen die Mittel nach eigenem Ermessen eingesetzt, teils zur Disziplinierung oder Beruhigung der Kinder.
Bis heute leiden viele Betroffene unter der Ungewissheit, was ihnen damals verabreicht wurde. Einige kämpfen mit gesundheitlichen Spätfolgen – andere schlicht mit der Frage, warum niemand sie geschützt hat.

Reaktionen der Träger: Betroffenheit und Aufarbeitung

Von den früheren Bewohnerinnen des Heims „Im Sonnenwinkel“ hat sich bislang niemand bei den Forschenden gemeldet. Die Diakonische Stiftung Ummeln, die als Rechtsnachfolgerin des damaligen Trägers gilt, zeigte sich auf Anfrage betroffen. In einer Stellungnahme hieß es, die damaligen Vorgänge hätten das heutige Selbstverständnis der Stiftung „tief erschüttert“. Auch der LWL kündigte an, die Ergebnisse intern auszuwerten und die historische Aufarbeitung weiterzuführen.
NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) bat bereits öffentlich um Entschuldigung bei allen Opfern. Das Land will prüfen, wie eine finanzielle oder symbolische Anerkennung des erlittenen Unrechts aussehen kann.

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