
Münster/AI. Das Bundesverfassungsgericht hat am 7. August 2025 zwei weitreichende Entscheidungen zur digitalen Überwachung getroffen. Während das novellierte Polizeigesetz NRW in Bezug auf präventive Maßnahmen als verfassungsgemäß gilt, wurde der Einsatz von Staatstrojanern bei geringfügigen Straftaten auf Bundesebene für unzulässig erklärt. Die Folgen betreffen Polizei, Justiz und den Gesetzgeber gleichermaßen.
Im Fokus der ersten Entscheidung standen die Vorschriften des Polizeigesetzes NRW (§§ 20c ff.), die es ermöglichen, Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) und Online-Durchsuchungen präventiv einzusetzen – also bevor eine Straftat begangen wurde. Diese tiefgreifenden Eingriffe in die digitale Privatsphäre sind laut Urteil verfassungskonform, sofern sie nur bei terroristischen Gefahren oder vergleichbar schweren Bedrohungslagen erfolgen.
Entscheidend sei laut Bundesverfassungsgericht die hohe Eingriffsschwelle: Nur bei konkreten Gefahren für besonders schützenswerte Rechtsgüter wie Leib, Leben oder die staatliche Ordnung dürfen solche Maßnahmen erfolgen. Zudem gelten strenge Auflagen wie der Richtervorbehalt, zeitliche Begrenzungen und die Pflicht zur nachträglichen Benachrichtigung der Betroffenen. Damit werde laut Gericht das Gebot der Verhältnismäßigkeit gewahrt.
Weniger gnädig fiel das Urteil mit Blick auf die Strafprozessordnung aus. Die seit 2017 gültigen Regelungen (§ 100a Abs. 1 S. 2 und § 100b StPO) erlaubten es Ermittlungsbehörden, digitale Überwachungsmaßnahmen auch bei vergleichsweise leichten Straftaten mit bis zu drei Jahren Höchststrafe einzusetzen. Das sei unverhältnismäßig, entschied Karlsruhe.
Außerdem beanstandete das Gericht einen formalen Fehler: In § 100b StPO fehlten notwendige Grundrechtsverweise, was einen Verstoß gegen das sogenannte Zitiergebot des Grundgesetzes (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG) darstellt. Die Vorschrift ist daher in ihrer aktuellen Fassung verfassungswidrig.
Für die Polizei in NRW ändert sich vorerst wenig. Sie darf auch weiterhin präventiv mit Staatstrojanern arbeiten – allerdings nur zur Abwehr terroristischer Gefahren und unter der Voraussetzung richterlicher Kontrolle sowie umfassender Dokumentation.
Anders sieht es im Bereich der Strafverfolgung auf Bundesebene aus: Ermittlungsmaßnahmen wie Online-Durchsuchungen und Quellen-TKÜ sind ab sofort nicht mehr zulässig, wenn sie lediglich auf geringfügigen Delikten basieren. Verfahren, in denen etwa Diebstähle oder Betrugsdelikte mit digitalen Mitteln verfolgt wurden, müssen jetzt neu bewertet oder eingestellt werden.
Zudem hat Karlsruhe dem Gesetzgeber eine klare Frist gesetzt: Bis spätestens 30. Juni 2026 müssen die einschlägigen Paragrafen der Strafprozessordnung überarbeitet und verfassungsgemäß formuliert werden.
Die Datenschutzorganisation Digitalcourage, die gemeinsam mit anderen die Verfassungsbeschwerde eingereicht hatte, sprach von einem Etappensieg. Besonders positiv sei, dass der Einsatz von Überwachung bei Alltagskriminalität nicht länger erlaubt sei. Damit werde verhindert, dass solche Maßnahmen als Vorwand für tiefe Grundrechtseingriffe genutzt werden können.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) begrüßte hingegen, dass das Gericht den „Grundsatznutzen“ digitaler Ermittlungsinstrumente bestätigt habe. Der Einsatz bei schweren Drogendelikten mit mehrjährigem Strafrahmen bleibe weiterhin zulässig.
Auch die Rechtswissenschaft sieht sich in ihrer Einschätzung bestätigt: Bereits 2008 hatte Karlsruhe entschieden, dass digitale Überwachung nur bei besonders gewichtigen Gefahren oder Straftaten zulässig sein darf. Diese Linie werde nun konsequent weitergeführt.
Die Entscheidung hat weitreichende Signalwirkung – nicht nur für die Landespolizei in NRW. Andere Bundesländer, die ähnlich weitreichende Überwachungsbefugnisse in ihren Polizeigesetzen verankert haben, müssen ihre Regelungen nun mit Blick auf die Verfassungslage prüfen. Das Urteil aus Karlsruhe fungiert damit als eine Art Blaupause für rechtsstaatlich zulässige digitale Überwachung.
Gleichzeitig zwingt das Urteil die Ermittlungsbehörden bundesweit dazu, laufende Verfahren kritisch zu hinterfragen. Besonders in Fällen, in denen Staatstrojaner zur Aufklärung von vergleichsweise harmlosen Delikten genutzt wurden, droht eine rechtliche Neubewertung.
Der Bund ist nun in der Pflicht, die verfassungswidrigen Regelungen der Strafprozessordnung bis spätestens Mitte 2026 neu zu fassen. Bis dahin bleibt unklar, wie mit laufenden Verfahren umzugehen ist. Klar ist jedoch: Ohne Neuregelung droht ein rechtliches Vakuum.
In NRW bleiben die präventiven Befugnisse formal bestehen, doch unterliegen sie weiterhin einer engen gerichtlichen Kontrolle und Berichtspflichten gegenüber dem Landtag. Auch die politische Debatte dürfte in den kommenden Monaten an Fahrt aufnehmen – insbesondere rund um die technische Absicherung der eingesetzten Staatstrojaner. Fragen nach Sicherheitslücken, der Verwendung von Zero-Day-Exploits und staatlichem Patch-Management sind bisher kaum zufriedenstellend beantwortet.