Sagen und Legenden aus dem Münsterland: Zwischen Geschichte und Mythos

Burg Vischering, Legenden aus dem Münsterland
Dietmar Rabich / Wikimedia Commons / “Lüdinghausen, Burg Vischering -- 2013 -- 0297” / CC BY-SA 4.0

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Zwischen den Nebeln der Davert, den Mauern von Burg Vischering und den uralten Steinen bei Heiden verschwimmen im Münsterland die Grenzen zwischen Geschichte und Legende. Hier, wo feudale Machtkämpfe, steinzeitliche Grabstätten und Spukgeschichten aufeinandertreffen, lebt eine besondere Form des regionalen Gedächtnisses fort: Sagen, die von Generation zu Generation erzählt, neu gedeutet und zugleich durch reale Fundstücke und historische Quellen gestützt werden. Manche dieser Geschichten wirken heute wie düstere Märchen, doch sie wurzeln tief in der Vergangenheit und oft auch in belegten Ereignissen.

Burg Vischering: Der Ritter mit dem eisernen Halsband

Im Jahr 1520, als das Münsterland noch von Fehden zwischen Adelsfamilien geprägt war, kam es zu einem Vorfall, der selbst für jene raue Zeit ungewöhnlich grausam war. Der betagte Ritter Lambert von Oer, auf dem Heimweg von Lüdinghausen nach Burg Kakesbeck, wurde überfallen. Seine Gegner, darunter Goddert von Harmen, legten ihm ein schweres eisernes Halsband mit Dornen an – ein Folterinstrument, das ihn im Streit um Besitzrechte demütigen sollte. Der alte Ritter soll, halb ohnmächtig, mit dem blutigen Reif um den Hals bis nach Münster geritten sein, wo ein Schmied ihn schließlich aufmeißelte.

Dieses Ereignis ist keine bloße Legende. Das Originalhalsband existiert bis heute und liegt im Münsterlandmuseum auf Burg Vischering. Das über zwei Kilogramm schwere Stück aus Eisen ist sechseckig geformt und innen mit vier Dornen besetzt. Es wurde beim Öffnen in zwei Teile zerschlagen – ein stummer Zeuge brutaler Machtkämpfe des Spätmittelalters. 2018 ließ der Kreis Coesfeld eine Replik anfertigen, die Besucher berühren dürfen. Archäometallurgische Analysen durch das Deutsche Bergbau-Museum Bochum bestätigten die historische Authentizität des Objekts.

Hinter der Tat stand ein langjähriger Streit zwischen westfälischen Rittergeschlechtern, der erst 1528 geschlichtet wurde. So ist die Geschichte des Ritters mit dem eisernen Halsband kein bloßes Schauermärchen, sondern ein einzigartiges Beispiel dafür, wie Fehdewesen, Gewalt und Ehre das Leben im Münsterland prägten – und wie eine reale Begebenheit zur Legende wurde, die bis heute erzählt wird.

Die Teufelssteine bei Heiden

Wer die Düwelsteene bei Heiden besucht, steht vor einem der ältesten Zeugnisse menschlicher Kultur im Münsterland. Das jungsteinzeitliche Ganggrab, rund zwölf Meter lang und vier Meter breit, wurde um 3000 v. Chr. von der sogenannten Trichterbecherkultur errichtet. Es diente vermutlich als Sammelgrab, in dem mehrere Bestattungen vorgenommen wurden. Archäologen fanden Keramikreste und Leichenbrand, ein seltenes Indiz für Brandbestattungen in dieser Epoche. Trotz einer teilweisen Restaurierung 1932 gilt das Monument als außergewöhnlich gut erhalten. Dank der Altertumskommission des LWL ist es heute sogar als 3D-Modell digital begehbar.

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Doch während die Wissenschaft in den Düwelsteenen ein uraltes Bauwerk sieht, erklärt die Volksüberlieferung ihre Entstehung ganz anders. Der Teufel selbst, so erzählt man sich, habe einst auf dem Weg nach Aachen einen Sack voller Steine getragen. Er wollte damit den Dom Karls des Großen zerstören. Als er in Heiden einem Schusterjungen begegnete, der ihm seine zwölf abgelaufenen Schuhe zeigte, erkannte der Teufel, wie weit der Weg noch sei. Vor Zorn und Verzweiflung schleuderte er den Sack zu Boden. Die Steine blieben liegen, wo man sie heute noch findet.

Die Teufelssteine sind seither ein Ort, an dem sich Mythos und Archäologie auf einzigartige Weise überlagern. Sie sind sowohl wissenschaftliches Kulturerbe als auch Symbol einer lebendigen Erzähltradition. Die Gemeinde Heiden hat die Sage bis heute in ihre lokale Identität integriert: Sie findet sich in Schautafeln, Schulprojekten und Themenrouten. Hier wird sichtbar, wie ein uraltes Grabmonument über Jahrtausende hinweg zum Teil der regionalen Seele wurde.

Der Rentmeister Schenkewald

Im Süden des Münsterlandes, dort, wo die Davert ihre nebelreichen Wälder ausbreitet, soll er noch immer umgehen: der Rentmeister Schenkewald, eine geisterhafte Gestalt aus der Sagenwelt um Schloss Nordkirchen. Einst, so heißt es, war Schenkewald ein habgieriger Verwalter, der Bauern drangsalierte und sich an ihren Abgaben bereicherte. Nach seinem Tod fand er keine Ruhe. In stürmischen Nächten, sagen die Leute, hört man das Rasseln seiner Kutsche, die durch die Wälder fährt, eine unheilvolle Mahnung an Maßlosigkeit und Schuld.

Die älteste bekannte Fassung dieser Sage stammt aus dem Jahr 1825. Damals erschien sie in einer westfälischen Sammlung des Autors F. A. Steinmann. In ihr berichten Zeugen, dass eines Nachts zwei Kapuzinermönche in einer schwarzen Kutsche vor Schloss Nordkirchen erschienen. Sie sollen den Geist abgeholt und in Richtung Davert geführt haben. Seitdem, so heißt es, fahre Schenkewald dort rastlos umher. Wer versucht, die gespenstische Kutsche zu berühren, riskiert, dass sie „in die Lüfte steigt und verschwindet“.

Manche Versionen der Geschichte tauschen die Mönche gegen den Teufel selbst aus, andere verlegen den Ursprung nach Drensteinfurt oder machen aus Schenkewald einen Schreiber. Doch alle Varianten sind fest im Landschaftsbild verwurzelt: Die Davert gilt seit Jahrhunderten als sagenumwobenes Gebiet, voller Moor, Nebel und Irrlichter. Namen wie der „Schenkewaldweg“ oder „Schenkwald-Brücke“ erinnern bis heute an den Spuk. Moderne Führungen greifen die Geschichte auf – als Teil einer lebendigen Erinnerungskultur, in der Gier und Gewissen, Buße und Bann zu einer westfälischen Moralerzählung verschmelzen.

Warum wir uns bis heute an diese Geschichten erinnern

Sagen wie die vom Ritter Lambert von Oer, den Teufelssteinen bei Heiden oder dem Spuk des Rentmeisters Schenkewald leben so lange fort, weil sie etwas schaffen, das nüchterne Geschichtsbücher nicht können: Sie verbinden historische Orte mit Emotionen und Vorstellungskraft. Eine Burg, ein Grabmal oder ein Wald wird durch solche Erzählungen nicht nur zum Schauplatz, sondern zum Träger von Geschichte. Wenn Besucher heute über die Zugbrücke von Burg Vischering gehen, in der Davert spazieren oder zwischen den Düwelsteenen stehen, dann begegnen sie nicht bloß alten Steinen, sondern einer Atmosphäre, die über Jahrhunderte gewachsen ist.

Gerade diese Verbindung von realem Ort und erzählter Vergangenheit verleiht Sagen ihre Wirkung. Man weiß, dass hier tatsächlich Menschen lebten, kämpften oder litten – und zugleich bleibt Raum für das Geheimnisvolle. Historische Orte geben den Geschichten ein Fundament, während die Sage ihnen Leben einhaucht. Aus einem archäologischen Fund wird so eine lebendige Erinnerung, aus einem alten Gerichtsstreit ein warnendes Beispiel, aus einem Wald ein Ort des Spuks.

Besonders in der Herbstzeit, wenn Nebel über den Feldern liegt und das Münsterland in gedämpftem Licht erscheint, entfalten diese Erzählungen ihre ganze Kraft. Sie machen Geschichte greifbar, ohne belehrend zu sein und erinnern daran, dass jede Region nicht nur ihre Bauwerke, sondern auch ihre Mythen bewahrt.

 

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