
Mit einem Preußen-Münster-Trikot direkt vor der Bielefelder Alm aufzutreten, ist für viele Fans der Arminia ein Sakrileg. Genau das tat Thomas Melchior, besser bekannt als „Sportwetten-Sheriff“. Mit einem Schild in den Händen, auf dem „Wette verloren“ stand, stellte er sich mitten ins Umfeld der Ostwestfalen. Sofort hagelte es Beleidigungen: „Verpiss dich!“, „Kriegst du da nicht Ausschlag?“ und andere Sprüche. Melchior nahm es gelassen – für ihn war die Provokation bewusst gewählt. „Die Aktion ist nicht zum Nachmachen geeignet, sie sollte Aufmerksamkeit schaffen“, betont er. Es geht ihm darum, auf die unterschätzte Gefahr von Spielsucht hinzuweisen.
Seine Geschichte beginnt 2005. Als Bankkaufmann setzte Melchior seine erste Sportwette auf das Champions-League-Spiel Bayern gegen Rapid Wien: 10 Euro Einsatz, 11 Euro Gewinn. Die Rendite von zehn Prozent in nur 45 Minuten erschien ihm beeindruckender als jede Anlage, die er seinen Kunden im Job anbieten konnte. Schon am zweiten Tag folgten 40 Wetten. Zunächst gewann er viel und lebte auf großem Fuß. Doch gleichzeitig verlor er Freunde, Arbeit und Freizeit. Fußballtraining und soziale Kontakte wurden unwichtig – das Spiel bestimmte sein Leben.
Sportwetten versprachen Spannung, doch die Mechanik dahinter erwies sich als zerstörerisch. „Wenn man gewinnt, ärgert man sich, nicht höher gesetzt zu haben. Wenn man verliert, will man sofort alles zurückholen“, beschreibt Melchior. Gewinne oder Verluste – beides trieb ihn tiefer in die Abhängigkeit. Besonders gefährlich: Die Sucht wirkt nach außen unsichtbar. Anders als Alkohol- oder Drogensucht bleibt sie lange unentdeckt. Für viele, so auch für ihn, kam der große Knall erst, als nichts mehr ging.
Die Bielefelder Aktion war nicht die erste Provokation. Schon zuvor trat Melchior vor der Schalker Arena im BVB-Trikot auf. Dort wurde er angerempelt und bespuckt, doch andere Fans griffen ein und halfen ihm. Solche Aktionen machten bundesweit Schlagzeilen. ProSieben-Galileo begleitete ihn in einer Reportage und gab ihm den Namen „Sportwetten-Sheriff“. Mit diesem Image will er heute aufklären und provozieren. Denn: „Wetten zerstören den Sport und die Liebe zum Fußball.“
Um seine Wettsucht zu finanzieren, griff Melchior irgendwann zu illegalen Mitteln. Betrug, Diebstahl und Unterschlagung führten 2019 zu seiner Festnahme. Er wurde zu mehreren Jahren Haft in der JVA Dresden verurteilt. Rückblickend bezeichnet er diese Zeit als befreiend. „Mit der Festnahme wusste ich: Es ist vorbei. Ich bin wieder frei.“ Gleichzeitig kritisiert er, dass die Kosten für seine Inhaftierung vom Steuerzahler getragen wurden, während die Wettanbieter weiterhin Milliarden verdienten.
Besonders perfide beschreibt Melchior den Umgang der Anbieter mit problematischen Spielern. Er wurde jahrelang als „VIP“ hofiert, erhielt tägliche Freispielangebote und persönliche Betreuung. Damit wurde er immer weiter an den Bildschirm gebunden. Er verweist darauf, dass damals in Deutschland noch kein einziger Anbieter über eine gültige Lizenz verfügte. „Die Anbieter haben mich bewusst zum Spielen verführt, obwohl sie rechtlich überhaupt nicht abgesichert waren“, so seine Kritik.
Genau dieser Punkt steht nun im Fokus der Justiz. Am 24. September 2025 wird ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs erwartet, das für die gesamte Branche wegweisend sein könnte. Es geht um die Frage, ob Anbieter, die ohne deutsche Lizenz agierten, ihre Einnahmen an Spieler zurückzahlen müssen. Der Bundesgerichtshof hatte Fälle wie Tipico und Betano dem EuGH vorgelegt. Sollte das Gericht entscheiden, dass Verluste zurückerstattet werden müssen, könnte dies eine Klagewelle auslösen. Für Melchior ist das ein wichtiges Signal: „Damals hatte keiner eine Lizenz. Trotzdem wurde ich als VIP betreut. Wenn jetzt endlich ein Gericht klarstellt, dass dieses Geschäftsmodell nicht rechtens war, ist das ein Schritt in die richtige Richtung.“
Melchior stellt zudem die Frage, woher Wettanbieter die Mittel für millionenschwere Sponsoring-Deals mit Fußballverbänden und der UEFA haben. Seine Antwort: aus den Verlusten der Spieler. Besonders dramatisch sei dies bei spektakulären Spielen. Als Borussia Dortmund kürzlich in der Nachspielzeit ein 4:2 gegen Juventus Turin noch zu einem 4:4 verspielte, hätten unzählige Spieler ihre Wetten verloren. Für viele entstehe dadurch das Gefühl, das Schicksal sei gegen sie – und die Abwärtsspirale setze sich fort.
Heute lebt Thomas Melchior mit einem sechsstelligen Schuldenberg. Dennoch will er seine Erfahrungen nutzen, um andere zu warnen. „Glaubt an euch – und nicht an den Traum vom schnellen Gewinn“, lautet seine Botschaft. Sein Preußen-Münster-Trikot, das er bei der Aktion in Bielefeld trug, will er demnächst für einen guten Zweck versteigern. Für ihn ist klar: Wetten zerstören nicht nur Konten, sondern auch Leidenschaft, Sport und Lebenszeit.