
Am Mittag des 10. Dezember 2012 entdeckt ein Reisender auf Gleis 1 des Bonner Hauptbahnhofs eine herrenlose blaue Sporttasche. Misstrauisch informiert er das Bahnpersonal, das wiederum die Bundespolizei verständigt. Sofort werden alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen eingeleitet: Der gesamte Hauptbahnhof wird evakuiert, der Zugverkehr eingestellt, umliegende Straßen gesperrt. Hunderte Reisende müssen das Bahnhofsgelände verlassen, viele Züge werden umgeleitet oder gestrichen. Gegen 15 Uhr nähern sich die Sprengstoffexperten der Bundespolizei dem verdächtigen Gepäckstück. Mit einem Wassergewehr schießen sie gezielt auf die Tasche, um eine mögliche Explosion zu verhindern.
Der Inhalt der Tasche sorgt für Bestürzung: Ein Metallrohr, gefüllt mit Ammoniumnitrat, vier Gaskartuschen, ein batteriebetriebener Wecker mit Drähten und eine Zeitschaltuhr. Zwar fehlt ein Initialzünder, doch Experten bestätigen: Hätte die Konstruktion gezündet, wären zahlreiche Menschen schwer verletzt oder getötet worden. Die Polizei spricht von einem versuchten Bombenanschlag. Noch am Abend sichern Ermittler Spuren am Gleis und befragen Zeugen. Ein Jugendlicher will gesehen haben, wie drei junge Männer die Tasche abgestellt haben. Die Bundespolizei bittet die Bevölkerung um Hinweise und wertet Überwachungsvideos aus.
Die Sprengstoffexperten analysieren die Bauweise der Bombe und bestätigen: Es handelt sich um eine sogenannte Rohrbombe. Die Art der verwendeten Materialien sowie die Platzierung lassen auf eine geplante maximale Wirkung schließen. Die vier Gaskartuschen hätten im Falle einer Detonation als Brandverstärker gewirkt und vermutlich zu einem Flächenbrand in der Bahnhofshalle geführt. Die Kombination aus chemischen Bestandteilen zeigt zudem: Hier war ein erheblicher technischer Sachverstand im Spiel.
Ermittler gehen davon aus, dass die Tat gezielt vorbereitet wurde. Hinweise auf dilettantisches Vorgehen fehlen. Auffällig ist die Wahl des Tatorts: Gleis 1 ist stark frequentiert, insbesondere am Mittag. Offenbar sollte ein möglichst großer Personenschaden angerichtet werden. Die Tatsache, dass die Bombe nicht zündete, wird später als glücklicher Zufall bewertet. Möglicherweise war der Zündmechanismus defekt oder wurde unvollständig montiert. Die Kriminaltechniker rekonstruieren die genaue Funktion des Sprengsatzes, können aber wegen der Wasserzerstörung nicht alle Komponenten auswerten.
Zunächst liegt der Fall bei der Bonner Kriminalpolizei. Es gibt schnell erste Hinweise auf eine mögliche islamistische Motivation. Bonn ist bereits zu diesem Zeitpunkt als Hochburg der Salafistenszene bekannt. Die Polizei nimmt zwei Männer aus dem islamistischen Milieu fest, doch die Beweislage reicht nicht aus, um sie zu halten. Beide werden wieder freigelassen. Dennoch bleibt die Richtung der Ermittlungen klar: Man vermutet einen religiös motivierten Anschlagsversuch.
Am 14. Dezember 2012 übernimmt der Generalbundesanwalt die Ermittlungen. Nun ist klar: Es geht nicht nur um gefährlichen Umgang mit Sprengstoff, sondern um den Verdacht auf einen terroristischen Akt. Spezialisten des Bundeskriminalamts (BKA) übernehmen die Fallführung. Monatelang tappen die Ermittler im Dunkeln, obwohl sie DNA-Spuren sichern können. Erst ein zweiter Fall bringt die Wende.
Im März 2013 plant eine islamistische Zelle einen Mordanschlag auf Markus Beisicht, Vorsitzender der rechtsextremen Partei Pro NRW. Vier mutmaßliche Islamisten werden festgenommen, darunter der deutsche Konvertit Marco G. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung stoßen Ermittler auf Waffen, Chemikalien und eine Liste mit Namen von politischen Gegnern. Zudem stimmen DNA-Spuren mit denen vom Bonner Tatort überein. Marco G. gerät ins Zentrum der Ermittlungen.
Im Laufe der weiteren Ermittlungen wird deutlich, dass Marco G. nicht allein gehandelt hat. Weitere Personen aus seinem Umfeld werden überwacht. Es zeigt sich: Die Gruppe hat sich offenbar durch islamistische Propaganda radikalisiert. Besonders auffällig: Die in Bonn aufgewachsenen Chouka-Brüder hatten zuvor in einem im Internet verbreiteten Video zu Anschlägen gegen Pro NRW aufgerufen. Das Video wird als möglicher ideologischer Auslöser des geplanten Attentats auf Beisicht eingestuft.
Schon zwei Tage nach dem Bombenfund, am 12. Dezember 2012, wird der Fall in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY… ungelöst“ vorgestellt. Die Ermittler setzen große Hoffnungen in die Öffentlichkeitsfahndung. In der Sendung wird ein Phantombild gezeigt, das auf einer Zeugenaussage basiert. Außerdem zeigt die Sendung Videoaufnahmen aus einer Fast-Food-Filiale im Bahnhof, auf denen ein Mann mit einer blauen Sporttasche zu sehen ist.
Nach der Sendung gehen über 60 Hinweise bei der Polizei ein. Zwar führt keiner direkt zur Festnahme der Täter, doch viele Hinweise liefern wertvolle Details zur Tatnacht und zu verdächtigen Personen. Die Sendung trägt außerdem zur bundesweiten Aufmerksamkeit für den Fall bei. Sie verankert das Geschehen im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung. Als Marco G. Monate später als Hauptverdächtiger identifiziert wird, berichtet „Aktenzeichen XY“ erneut über die Entwicklungen. Im Jahr 2025 greift „Aktenzeichen XY… ungelöst“ den Fall erneut auf – diesmal im True-Crime-Podcast. In einer zweiteiligen Spezialfolge wird der Fall ausführlich rekonstruiert.
Im März 2014 erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage gegen vier Männer: Marco G., Enea B., Koray D. und Tayfun S. Die Beschuldigten sollen gemeinschaftlich versucht haben, einen islamistisch motivierten Terroranschlag am Bonner Hauptbahnhof zu verüben. Die Vorwürfe lauten auf versuchten Mord, versuchte Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion sowie Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Hintergrund der Tat soll laut Anklage ein ideologisches Motiv gewesen sein: Rache für die Mohammed-Karikaturen, die von der Partei Pro NRW öffentlich gezeigt worden waren. Die Gruppierung galt in islamistischen Kreisen als Provokateur.
Die vier Männer sollen sich in diesem Kontext radikalisiert und den Anschlag als Teil eines Vergeltungsschlags verstanden haben. Der Prozess beginnt im September 2014 vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf. Es ist eines der aufwendigsten Verfahren gegen inländische Islamisten in der jüngeren deutschen Justizgeschichte. Über 155 Verhandlungstage hinweg zeichnet sich ein komplexes Bild: Die vier Angeklagten sollen sich über Jahre in salafistischen Kreisen bewegt, Kontakte zu radikalen Predigern unterhalten und sich im Internet radikalisiert haben. Im Mittelpunkt der Ermittlungen steht Marco G., ein zum Islam konvertierter Deutscher, der als Anführer der Gruppe galt. Ihm wird zur Last gelegt, den Sprengsatz in Bonn deponiert und die logistische Planung des Anschlags übernommen zu haben.
Die Bundesanwaltschaft führt umfangreiche Beweismittel an: Spuren am Tatort, Auswertungen elektronischer Kommunikation, Aussagen von Zeugen aus dem Umfeld der Beschuldigten sowie Materialien aus beschlagnahmten Wohnungen. Der Prozess zieht sich über Jahre, da immer wieder neue Informationen und Expertengutachten einbezogen werden müssen. Vor allem die Frage der Zündfähigkeit des Sprengsatzes wird intensiv verhandelt. Die Verteidigung behauptet, es habe sich um eine „Demonstrationstat“ gehandelt – das Gericht folgt dieser Einschätzung jedoch nicht.
Nach der Tat beginnt eine breite sicherheitspolitische Debatte über Videoüberwachung, Polizeipräsenz und Terrorabwehr in Deutschland. Besonders kritisch diskutiert wird, dass die Kameras am Bonner Hauptbahnhof zwar funktionierten, jedoch keine Aufnahmen gespeichert wurden. Die Bahn verwies auf fehlende Anordnungen seitens der Bundespolizei, während das Bundesinnenministerium wiederum der Bahn mangelnden technischen Ausbau vorwarf. Diese gegenseitige Verantwortungsschiebung sorgt für öffentliche Empörung.
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich ruft die Bevölkerung zu erhöhter Wachsamkeit auf, betont aber gleichzeitig, man dürfe sich nicht in Panik versetzen lassen. In der Folgezeit werden Sicherheitsgipfel abgehalten, neue Videoüberwachungsanlagen installiert und Polizeipräsenz auf Bahnhöfen erhöht. Der Fall Bonn wird zum Wendepunkt in der sicherheitspolitischen Diskussion über islamistischen Terrorismus im Inland. Die Debatte über Verhältnismäßigkeit und Datenschutz flammt erneut auf.
Gesellschaftlich hinterlässt der Fall ein Gefühl der Verunsicherung. Viele Bürger melden in den Wochen nach der Tat verdächtige Gepäckstücke – oft Fehlalarme, die aber zeigen, wie sensibilisiert die Bevölkerung inzwischen ist. Die Angst vor dem Terror wird Teil des öffentlichen Diskurses. Gleichzeitig findet eine intensive Auseinandersetzung mit islamistischer Radikalisierung in Deutschland statt. Der Fall Bonn gilt bis heute als mahnendes Beispiel für die Gefahr, die von kleinen, gut organisierten Zellen mit ideologischem Hintergrund ausgehen kann.