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Das letzte Versprechen: die Spur zum Schattenmann

Kiel bei Nacht
Foto: Uwe Jacobs, Kiel bei Nacht

Schockierender Fund am Ostermontag

Kiel, Ostermontag 1998: In einer eleganten Villa im Stadtteil Düsternbrook macht ein Hausangestellter eine schreckliche Entdeckung. Der Unternehmer Johannes Gerarts (54) und seine Ehefrau Iris (49) liegen erschossen und blutüberströmt im Ehebett – eine Szene wie aus einem Albtraum. Insgesamt neun Projektile haben die Gerichtsmediziner in den Köpfen der Opfer gezählt – sechs trafen Johannes Gerarts, drei seine Frau. Die ballistischen Untersuchungen ergeben zudem, dass die tödlichen Schüsse aus einer Maschinenpistole des Typs Skorpion abgefeuert wurden – einer ungewöhnlichen Tatwaffe, die auf eine regelrechte Hinrichtung hindeutet.

Am Tatort bieten sich den herbeigerufenen Ermittlern weitere verstörende Indizien. Schränke und Schubladen im Haus sind durchwühlt, Wertgegenstände fehlen – darunter teure Pelzmäntel, Uhren und sogar wertvolle Ikonen aus der Kunstsammlung der Familie. Alles sieht nach einem eskalierten Raubüberfall aus. Die Polizei geht zunächst von einem Raubmord aus: Offenbar wurden die Eheleute Opfer eines Einbruchs, der in brutaler Weise endete. Doch schon bald werden Zweifel an dieser naheliegenden Theorie aufkommen.

Die Ermittlungen führen zum Chauffeur

Die scheinbare Raubmord-Theorie bekommt erste Risse, als die Ermittler eine entscheidende Spur entdecken. Mit der EC-Karte der Gerarts werden kurz nach der Tat an Geldautomaten Bargeldbeträge abgehoben. Jemand verwendet also die Scheckkarte der Toten – ein ungewöhnliches Verhalten für einen flüchtigen Räuber, der eigentlich unerkannt bleiben will. Die Transaktionsdaten führen die Kriminalpolizei schnell zu einem bekannten Namen im Umfeld der Opfer: Heinz W., 51 Jahre alt, langjähriger Chauffeur und Vertrauter der Familie.

Heinz W., ein Berliner Taxifahrer und Privatdetektiv, hatte über sieben Jahre als Fahrer, Leibwächter und enger Vertrauter für Johannes Gerarts gearbeitet. Dieser Mann, der dem Unternehmerpaar fast wie ein Familienmitglied verbunden war, gerät nun ins Visier der Ermittlungen. Nur drei Tage nach dem grausigen Fund in der Villa spüren Fahnder den Verdächtigen in Berlin auf und nehmen ihn fest. Was Heinz W. dann gegenüber der Polizei aussagt, lässt selbst erfahrene Kriminalbeamte staunen – und stellt den bisherigen Tathergang vollkommen auf den Kopf. In internen Ermittlerberichten taucht bald ein Begriff auf, der das Unfassbare greifbar machen soll: der Schattenmann. Gemeint ist der Unbekannte, der scheinbar aus dem Hintergrund agierte – ein Drahtzieher, der die Fäden zog, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Doch die Wahrheit sollte noch viel verstörender sein.

Doppelmord auf Wunsch

Heinz W. legt ein umfassendes Geständnis ab, das einen völlig unerwarteten Hintergrund des Verbrechens offenbart. Laut seiner Aussage handelt es sich bei dem blutigen Geschehen in der Kieler Villa nicht um einen Raubüberfall durch fremde Täter, sondern um einen von langer Hand geplanten gemeinsamen Tod – inszeniert als Verbrechen auf ausdrücklichen Wunsch der Opfer selbst. Der Chauffeur gesteht, er habe das befreundete Ehepaar Gerarts erschossen, weil die beiden Eheleute ihn inständig darum gebeten hätten. Die vermeintliche Raubmord-Szenerie sei Teil des Plans gewesen, um die wahren Beweggründe zu verschleiern und den Angehörigen sowie der Öffentlichkeit einen Mord vorzutäuschen. W. berichtet den fassungslosen Ermittlern, er habe dem Ehepaar sein Ehrenwort gegeben, ihnen bei ihrem letzten Vorhaben zu helfen und alles wie einen Überfall aussehen zu lassen.

Als Grund für den verzweifelten Todeswunsch der Gerarts nennt der Chauffeur sowohl gesundheitliches Leiden als auch wirtschaftliche Not. Johannes Gerarts war Diabetiker und schwer krank, Iris Gerarts litt an fortschreitender Multipler Sklerose; beide hätten die quälenden Folgen ihrer Krankheiten kaum noch ertragen. Gleichzeitig habe das ehemals erfolgreiche Unternehmerpaar vor den Trümmern seiner Existenz gestanden – ihre Firmenimperium war hoch verschuldet, der finanzielle Ruin schien unausweichlich. Diese Umstände zusammen hätten Johannes und Iris Gerarts in tiefe Verzweiflung gestürzt und den Plan reifen lassen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden, anstatt Krankheit, Bankrott und sozialer Ächtung ins Auge zu sehen.

Die verzweifelte Lage der Gerarts

Tatsächlich offenbart die Nachforschung in die Hintergründe des Paares ein tragisches Bild. Nach außen hin galten Johannes und Iris Gerarts als angesehene Persönlichkeiten in Kiel: ein wohlhabendes Unternehmer-Ehepaar, das als Sponsor von Sportvereinen und Kulturfesten in Erscheinung trat und gesellschaftliches Ansehen genoss. Hinter der Fassade jedoch sah die Realität deutlich düsterer aus. Der 54-jährige Johannes Gerarts war schwer zuckerkrank; infolge seiner Diabetes war ihm bereits ein Unterschenkel amputiert worden, nun drohte auch noch die Amputation des zweiten Beines. Seine 49-jährige Frau Iris litt seit Jahren an unheilbarer multipler Sklerose. Die fortschreitende Erkrankung raubte ihr nach und nach die Mobilität und trieb sie in Depressionen – mehrfach soll sie in ihrer Verzweiflung versucht haben, sich das Leben zu nehmen.

Zusätzlich spitzte sich die finanzielle Situation der Familie dramatisch zu. Die einst florierende Gerarts-Unternehmensgruppe – tätig im Garten- und Baubereich – war überschuldet und faktisch bankrott. Die Banken machten Druck: Unmittelbar nach den Osterfeiertagen 1998 sollte ein externer Geschäftsführer eingesetzt werden, um die Firma zu retten. Für den stolzen Selfmade-Unternehmer Johannes Gerarts muss dies einem persönlichen Scheitern gleichgekommen sein. Ermittler und später auch die Anklage vermuten, dass Gerarts den Gesichtsverlust, das Mitleid und den Spott im Falle eines öffentlichen Bankrotts nicht ertragen konnte. Aus Angst vor dem sozialen Absturz und der eigenen körperlichen Gebrechlichkeit fassten die Eheleute daher offenbar den drastischen Entschluss, gemeinsam den Freitod zu inszenieren – ehe man sie gebrochen und entwürdigt erleben würde.

Planung eines inszenierten Verbrechens

Nach Angaben von Heinz W. sei der Plan für den gemeinsamen Tod von Johannes und Iris Gerarts lange vorbereitet worden. Das Ehepaar habe ihn früh in seine Absichten eingeweiht und gebeten, als Todesschütze zu fungieren. Ziel sei es gewesen, den Doppelselbstmord wie einen Raubmord aussehen zu lassen, um den Angehörigen die wahren Gründe zu ersparen. Eine Bezahlung für die Tat habe W. nach eigener Aussage nicht verlangt; er habe lediglich einem alten Freund einen letzten Dienst erwiesen. Die Tat selbst sei akribisch vorbereitet worden: Am Karfreitag, dem 10. April 1998, habe Gerarts ihn telefonisch aufgefordert, „alles mitzubringen“ – vor allem die zuvor organisierte Maschinenpistole vom Typ Skorpion. Die Waffe sei W. wenige Stunden später am Potsdamer Bahnhof übergeben worden.

Drei Tage später sei er zur vereinbarten Zeit in der Villa der Gerarts erschienen. Dort habe man letzte Details besprochen. Gerarts habe ihm sogar eine Skizze mit Zielpunkten auf dem eigenen Kopf überreicht. Anschließend hätten sich beide Eheleute mit Schlafmitteln betäubt. Johannes habe sich selbst ins Bett gelegt, Iris sei von W. in das Ehebett getragen worden. Nachdem sich gegen 22:30 Uhr automatisch die Rollläden geschlossen hätten, habe W. den Puls der beiden überprüft – und keinen Herzschlag gespürt. In der Annahme, die beiden seien bereits tot, habe er neun gezielte Schüsse abgegeben. Danach habe er den Tatort wie einen Raubüberfall aussehen lassen: Wertsachen seien entwendet, Schränke durchwühlt, persönliche Gegenstände verstreut worden. Noch in derselben Nacht habe W. die Tatwaffe im Großen Wannsee versenkt und die Villa verlassen. Zurückgeblieben seien zwei Leichen und ein inszeniertes Bild eines brutalen Verbrechens.

Gerichtsmedizinische Klarheit: Kein Tod durch Schlafmittel

Die Schilderungen von Heinz W. wirken auf die Ermittler von Anfang an ungewöhnlich – insbesondere seine Behauptung, er habe erst auf bereits verstorbene Personen geschossen. Dieser Punkt erscheint so unglaubwürdig, dass die Staatsanwaltschaft eine umfassende forensische Untersuchung in Auftrag gibt. Die zentrale Frage lautet: Waren Johannes und Iris Gerarts zum Zeitpunkt der Schüsse noch am Leben, oder hatte die eingenommene Dosis Schlafmittel tatsächlich ausgereicht, um ihren Tod herbeizuführen? Sollte Letzteres zutreffen, könnte W. juristisch nicht wegen einer Tötung, sondern allenfalls wegen einer Störung der Totenruhe belangt werden. Eine solche rechtliche Einordnung hätte den Fall grundlegend verändert – schließlich hätte dann die fingierte Raubmordinszenierung den einzigen strafbaren Akt dargestellt. Dementsprechend warten sowohl Anklage als auch Verteidigung gespannt auf die Ergebnisse der toxikologischen Analysen.

Das medizinische Gutachten bringt schließlich Gewissheit: Die Konzentration der Schlafmittel im Blut der Gerarts reicht nicht aus, um den Tod verursacht zu haben. Der medizinische Befund ist eindeutig: Johannes und Iris Gerarts starben an den Schüssen, nicht an den Tabletten. Die Hoffnung von Heinz W., lediglich als Helfer eines bereits vollzogenen Suizids betrachtet zu werden, zerschlägt sich damit. Seine Darstellung wird von den Gerichtsmedizinern widerlegt. Das Gericht wertet die entsprechende Aussage des Angeklagten als bewusste Schutzbehauptung, um seine Schuld zu relativieren. Es geht davon aus, dass er wusste, dass seine beiden Freunde noch lebten, als er das Feuer eröffnete. Damit ist klar: W. ist unmittelbar verantwortlich für den Tod des Ehepaars. Auch wenn der Impuls für das Geschehen von den Opfern selbst ausging, bleibt die aktive Durchführung eine strafrechtlich relevante Tötungshandlung – weshalb die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Tötung auf Verlangen erhebt.

Prozess und Urteil

Ende April 1999, gut ein Jahr nach der Tat, beginnt vor dem Landgericht Kiel der Prozess gegen Heinz W. Die Verhandlung dauert nur fünf Tage – dann zieht die 13. Strafkammer einen Schlussstrich unter einen der rätselhaftesten Kriminalfälle der letzten Jahre. Das Gericht folgt im Wesentlichen der von W. geschilderten Version der Ereignisse, bestätigt also den ungewöhnlichen Pakt zwischen dem Chauffeur und dem Ehepaar Gerarts. In der Urteilsbegründung heißt es, Heinz W. habe vor einem Jahr das im Bett liegende, durch Schlaftabletten bewusstlos gemachte Ehepaar Gerarts auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin mit sechs beziehungsweise drei Schüssen getötet. Juristisch wird die Tat als zweifache Tötung auf Verlangen gewertet – ein Sondertatbestand, der vorliegt, wenn ein Täter auf das eindringliche Verlangen des Opfers hin tötet. Das Strafmaß hierfür liegt erheblich unter dem für Mord oder Totschlag, da niedrige Beweggründe – etwa Habgier oder sonstige verwerfliche Motive – fehlen.

Tötung auf Verlangen?

Einen Mord aus eigenem Antrieb oder gegen Bezahlung konnten die Richter im Fall Gerarts nicht feststellen. Zwar hatte Johannes Gerarts dem Chauffeur wenige Tage vor der Tat 10.000 D-Mark zukommen lassen, doch ließ sich nicht beweisen, dass dieses Geld als Bezahlung für den „Auftrag“ gedacht war. Somit blieb es bei der Annahme, W. habe aus Freundschaft und Mitleid gehandelt und keinen finanziellen Vorteil gesucht. Die Verteidigung zeichnete in diesem Zusammenhang das Bild von Heinz W. als einer „Marionette“ des planenden Unternehmers – einer Figur, die letztlich nur ausführte, was sich der todkranke Gerarts in kühl kalkulierter Voraussicht selbst ausgedacht hatte. Tatsächlich sprechen die Fakten in vielerlei Hinsicht für diese Version: Vor allem der eindeutig belegte Todeswunsch der Gerarts bestätigt, dass W. nicht aus eigenem Antrieb gemordet hat, sondern in eine von den Opfern gewünschte Rolle schlüpfte.

Am Ende wird Heinz W. wegen zweifacher Tötung auf Verlangen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Zusätzlich spricht ihn das Gericht der Vortäuschung einer Straftat (wegen der fingierten Raubmord-Spuren) sowie eines Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz schuldig, da er für die Tat eine Maschinenpistole eingesetzt hatte. Das Urteil nimmt W. ohne sichtbare Regung an. In seinem letzten Wort zeigt er sich weinend und voller Reue: Es tue ihm schrecklich leid, was geschehen sei, erklärt er leise – er habe „Hannes und Iris“ doch nur helfen wollen.

Rückblickend wird deutlich: Der Schattenmann, den die Ermittler anfangs irgendwo im Hintergrund vermuteten, war nie jemand Fremdes. Er war nicht Heinz W., sondern Johannes Gerarts selbst – der Mann, der den tödlichen Plan mit klarem Kopf entwarf, alle Fäden zog und sich selbst als Opfer inszenierte. In diesem Sinn war der Schattenmann nicht der Täter. Er war das Opfer – und zugleich der Regisseur seines eigenen Endes.

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