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Verschollen im Schnee: Der rätselhafte Fall Karl-Erivan Haub

Tengelmann, Karl-Erivan Haub
Okfm, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Als der Milliardär in Zermatt spurlos verschwand

Zermatt, 7. April 2018. Ein strahlender Samstagmorgen kündigt den perfekten Tag für eine Skitour an. Der Himmel über dem Mattertal ist wolkenlos, die Temperaturen frostig, aber stabil: ideale Bedingungen für geübte Tourengeher. Einer von ihnen ist Karl-Erivan Haub. Der Milliardär und Geschäftsführer der Tengelmann-Gruppe hat sich am frühen Morgen aus dem Luxushotel „The Omnia“ aufgemacht, um alleine in Richtung Klein Matterhorn aufzubrechen. Sein Ziel: eine Trainingseinheit zur Vorbereitung auf die „Patrouille des Glaciers“, das härteste Skitourenrennen der Welt.

Mit Skiern, Stöcken und einem leichten Rucksack besteigt er eine Sonderfahrt der Seilbahn, die eigentlich nur für Mitarbeitende vorgesehen ist. Gegen 9:10 Uhr zeigen Überwachungskameras Haub zum letzten Mal: ruhig, zielstrebig, allein. Danach verliert sich jede Spur. Kein Notruf, keine GPS-Daten, kein Hinweis auf einen Unfall. Sein Handy meldete sich ab der Station Trockener Steg nicht mehr.

Es folgte eine groß angelegte Suchaktion, eine der umfangreichsten ihrer Art in den Walliser Alpen. Zeitweise waren bis zu sechs Helikopter und rund 60 Bergretter im Einsatz, auch von der italienischen Seite. Wärmebildkameras, hochauflösende Drohnen und Satellitenaufnahmen kamen zum Einsatz. Laut Medienberichten wurden auch das Bundeskanzleramt, das Auswärtige Amt sowie die deutsche und die US-Botschaft eingeschaltet, Karl-Erivan Haub besaß neben der deutschen auch die amerikanische Staatsbürgerschaft. Doch am Ende blieb nichts: keine Ausrüstung, keine Leiche, kein Lebenszeichen.

Ein Familiendrama hinter Milliarden

Die Tengelmann-Gruppe gilt als eines der bedeutendsten Familienunternehmen Deutschlands. Gegründet 1867, entwickelte sie sich unter der Ägide von Erivan Haub senior zu einem Handelsriesen. Mit Filialketten wie Kaiser’s, Plus, Netto, OBI, KiK oder TEDi war Tengelmann in fast jedem deutschen Haushalt präsent. Unter der Führung von Karl-Erivan Haub wurde das Unternehmen stärker auf Beteiligungen und digitale Geschäftsmodelle ausgerichtet: Zalando, Westwing, Delivery Hero oder Uber zählen bis heute zu den Referenzen.

Doch intern war das Familienunternehmen längst ein Pulverfass. Die drei Brüder, Karl-Erivan, Christian und Georg, hatten unterschiedliche Visionen und Fähigkeiten. Während Christian in den USA tätig war, arbeitete Georg an Projekten in Russland, teils mit Partnern, die später kritisch bewertet wurden. Karl-Erivan wiederum galt als Kontrollfreak. Er ließ seinen Bruder Georg über Jahre hinweg observieren, entzog ihm die Verantwortung im Konzern und schloss ihn zeitweise aus der Unternehmenszentrale aus. Nach dem Tod des Patriarchen Erivan Haub senior im März 2018 verschärfte sich die Situation. Nur einen Monat später verschwand Karl-Erivan: unter bis heute ungeklärten Umständen.

Spur ins Nichts oder Flucht nach Russland?

Zunächst gingen alle von einem tragischen Unglück aus. Doch die Intensität und Dauer der Suche, kombiniert mit dem völligen Fehlen jeglicher Spur, weckten Zweifel. Wurde das Verschwinden bewusst herbeigeführt? War es Teil eines Plans?

Recherchen legen nahe, dass eine geplante Flucht nicht ausgeschlossen werden kann. Auffällig waren das abgeschaltete Handy, der fehlende Notruf und die leichte Ausrüstung. 2024 geriet Karl-Erivans Bruder Christian ins Visier der Ermittler. Die Staatsanwaltschaft Köln eröffnete ein Verfahren wegen des Verdachts auf falsche Versicherung an Eides statt im Rahmen der Todeserklärung. Der Verdacht: Karl-Erivan lebt und die Familie weiß es.

Im Frühjahr 2025 tauchten neue Hinweise auf. Recherchen von Investigativjournalisten führten zu zwei Fotoaufnahmen aus Moskau, die einen Mann zeigen, der Karl-Erivan Haub frappierend ähnlich sieht. Die Herkunft der Bilder ist nicht verifiziert, doch der mediale Druck steigt. War der angebliche Unfall eine inszenierte Flucht? Hatte Haub Hilfe von Geheimdiensten? Immerhin war er mehrfach in Russland geschäftlich aktiv, auch im Kontext der OBI-Expansion in den 2000er Jahren. 2022 gab OBI sein Russland-Geschäft endgültig auf: Die 27 Märkte wurden für symbolische 600 Rubel an einen neuen Investor übergeben.

Ermittlungen, Widersprüche und Spekulationen

Der Fall hat längst Züge eines Wirtschaftskrimis angenommen. Was wie ein alpines Unglück aussieht, wirft kriminalistische Fragen auf: Warum wurde nie eine Spur gefunden? Warum kam es trotz intensiver Suche zu keinerlei Ergebnissen? Und was bedeuten die später aufgetauchten Hinweise aus Russland?

Besonders heikel ist der Verdacht, dass es sich nicht um eine freiwillige Flucht, sondern um eine konzertierte Aktion gehandelt haben könnte. Ob Haub tatsächlich mit Hilfe Dritter die Schweiz verließ, bleibt unbewiesen. Sicher ist: Bis heute verweigert sich die Familie Haub einer unabhängigen Aufarbeitung. Der Konzern kommuniziert zurückhaltend, die ermittelnden Behörden geben kaum Neues preis. So bleibt der Fall ein Stück Wirtschaftsgeschichte, das vielleicht nie vollständig aufgeklärt werden wird.

Was vom Mann bleibt, der Tengelmann war

Nach der offiziellen Todeserklärung 2021 wurde Karl-Erivan Haubs Bruder Christian Haub zum alleinigen Geschäftsführer der Tengelmann-Gruppe. Diese firmiert seitdem als Tengelmann Twenty-One KG und hat ihren Hauptsitz nach München verlegt. Aus dem klassischen Handelskonzern wurde eine Family-Equity-Holding mit drei Geschäftsfeldern: Retail, Venture & Growth sowie Real Estate.

Zu den wichtigsten Beteiligungen gehören heute der Baumarkt-Riese OBI, der Textildiscounter KiK und die Immobiliengesellschaft Trei Real Estate. Auch im Bereich Start-up-Investments ist die Gruppe aktiv, unter anderem über ECP Growth, das 2025 einen neuen Wachstumsfonds über 100 Millionen Dollar auflegte. In der Immobilienentwicklung ist Trei mit dem Projekt „Vendo Park“ in Polen aktiv, in Deutschland unter anderem in München und Mainz.

Finanziell steht Tengelmann gut da: Im Juni 2025 schloss man erfolgreich eine neue syndizierte Kreditlinie mit einem Bankenkonsortium ab. Gleichzeitig wurde ein konzernweites Compliance-System etabliert, auch in Reaktion auf das Lieferkettengesetz. Doch der Schatten des verschwundenen Bruders bleibt. Nicht nur juristisch, auch im Bild des Unternehmens.

Die Theorie eines fingierten Todes

Einige Beobachter vermuten hinter dem Verschwinden nicht nur eine Flucht, sondern einen kalkulierten, fingierten Tod. Der Zeitpunkt, kurz nach dem Tod des Vaters, war auffällig. Auch der Umstand, dass Haub regelmäßig in Regionen reiste, in denen Diskretion herrschte, facht Spekulationen an. Könnte es sein, dass der Milliardär seinen Tod bewusst inszenierte, um sich familiären und juristischen Konflikten zu entziehen? Konkrete Beweise dafür gibt es allerdings nicht.

Der Druck wächst

Mit dem Auftauchen neuer Hinweise im Jahr 2025, darunter angebliche Sichtungen in Moskau, wächst der öffentliche und juristische Druck auf die Familie und auf den Konzern. Die Staatsanwaltschaft Köln prüft aktuell, ob die Umstände der Todeserklärung 2021 rechtmäßig waren. Auch das Bundeskriminalamt hat sich eingeschaltet, insbesondere wegen der internationalen Dimension und der potenziellen Verbindungen zu russischen Netzwerken. Der Fall Haub ist heute ein komplexes Geflecht aus Familienmacht, internationalen Beziehungen, Firmengeheimnissen und verschwundenem Kapital.

Denn was bleibt, ist die Geschichte eines Mannes, der alles hatte: Geld, Einfluss, Familie. Und der dann, aus welchen Gründen auch immer, alles zurückließ. Die Geschichte von Karl-Erivan Haub ist kein klassischer Kriminalfall. Sie ist ein modernes Mysterium. Und sie zeigt, wie eng Macht, Kontrolle und Verlust miteinander verwoben sein können, selbst auf 4000 Metern Höhe.

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