Die Polizistenmorde von Oberhausen: Der Fall Karl-Heinz Girod

Oberhausen Sterkrade, Karl-Heinz Girod
Foto: Oberhausen Sterkrade, Christian Liebscher, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

15. Juni 1972: Ein Routineeinsatz gerät außer Kontrolle

Der Morgen des 15. Juni 1972 beginnt für die Oberhausener Polizei mit einem scheinbar planbaren Auftrag: Vier Beamte sollen mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss in der Beethovenstraße 24 die Wohnung von Karl-Heinz Girod betreten. Der 42-jährige ehemalige Chemiearbeiter gilt seit Jahren als Querulant, lebt mit Frau und fünf Kindern von Sozialhilfe und fällt durch Beschwerden und Prozesse gegen Behörden auf. Da er als waffenaffin bekannt ist, wird vorsorglich eine Streifenwagenbesatzung hinzugezogen. Als die Beamten an der Tür klingeln, geschieht das Unvorstellbare: Durch die Wohnungstür krachen Schüsse. Innerhalb weniger Sekunden brechen drei Polizisten zusammen, schwer getroffen von Girods Gewehrsalven.

Nur ein Beamter kann sich aus dem tödlichen Kugelhagel retten. Was als Routineeinsatz begann, eskaliert zum Albtraum. In der Beethovenstraße bricht Chaos aus, Passanten suchen Deckung, die alarmierten Kollegen eilen herbei, doch auch sie geraten in den Kugelhagel der Familie. Girod verschanzte sich gemeinsam mit Ehefrau Brunhilde und den fünf Kindern, darunter zwei Söhne im Alter von 14 und 16 Jahren, die aktiv mit Waffen auf Polizisten schießen. Über drei Stunden hinweg entwickelt sich ein erbarmungsloses Feuergefecht. Die Familie gibt insgesamt 388 Schüsse ab, drei Beamte sterben, vier weitere werden schwer verletzt. Der Einsatz von Oberhausen wird zur Zäsur in der Polizeigeschichte der Bundesrepublik.

 

Eine Familie im Wahn: Querulanz, Waffenbesitz und mediale Aufmerksamkeit

Karl-Heinz Girod war nicht einfach ein unbescholtener Bürger, der plötzlich zum Mörder wurde. Bereits Jahre zuvor hatte er einen regelrechten Privatkrieg mit Behörden geführt. Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und wiederkehrende Konflikte mit dem Amt bestimmten sein Leben. Immer wieder suchte er die Öffentlichkeit und trat an Journalisten heran, um seine vermeintlichen Ungerechtigkeiten darzustellen. Am Morgen der Tat hatte ein Reporter Girod noch besucht und ein Interview geführt – trotz Hinweisen, dass der Mann schwer bewaffnet und gefährlich sei. Hier zeigte sich eine fatale Mischung: Ein Mann, der sich in der Rolle des verfolgten Opfers sah, Waffen sammelte und seine Familie in diesen Konflikt hineinzog.

Psychologen sprechen später von einer „Folie à deux“ – einer geteilten Wahnidee, bei der eine Person das Umfeld in den eigenen Wahn hineinzieht. Ehefrau Brunhilde und die Kinder standen an seiner Seite, anstatt ihn zu bremsen. Besonders erschütternd: Die beiden ältesten Söhne griffen selbst zu Gewehren und schossen gezielt auf Polizisten. Für sie war der Vater das unumstrittene Vorbild, ein Kämpfer gegen das vermeintlich feindliche System. So wurde aus einer Familiendynamik, geprägt von Abhängigkeit und Loyalität, ein tödlicher Pakt gegen die Staatsgewalt. Der Fall zeigt, wie psychische Probleme, soziale Isolation und der Rückzug in eine private Parallelwelt in eine Katastrophe münden können, wenn keine wirksame Intervention erfolgt.

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Fehler im Einsatz: Warum die Polizei versagte

Die Ermittlungen nach dem Blutbad in Oberhausen brachten ans Licht, dass nicht nur Girods Schüsse den Tag so verhängnisvoll machten, sondern auch gravierende Fehler der Polizei. Schon die Einsatzplanung war mangelhaft. Obwohl Hinweise auf Girods Waffenbesitz vorlagen, wurde der Zugriff von normalen Kriminalbeamten und einer kleinen Schutzpolizeieinheit durchgeführt. Eine taktische Absicherung oder Spezialeinheiten existierten damals nicht. Während des Einsatzes verschärfte sich die Situation: Beamte gaben unkoordiniert Interviews, Reporter drangen bis in den Hausflur vor, Schaulustige sammelten sich am Einsatzort.

Statt klarer Befehlswege herrschte teilweise Unübersichtlichkeit. Schwer verletzte Kollegen konnten nicht geborgen werden, weil man keinen sicheren Zugang zur Wohnung fand. Ein interner Bericht des Innenministeriums Nordrhein-Westfalen sprach später offen von „plumpem Vorgehen“ und dokumentierte eine Reihe gravierender Fehlentscheidungen. Für die Familien der Opfer war diese Erkenntnis besonders bitter: Wären die Beamten noch am Leben, wenn die Einsatzleitung professioneller gehandelt hätte? Viele Zeichen sprechen dafür. Zugleich wird der Fall zum Wendepunkt. Er zeigt, dass hochgefährliche Lagen nicht mit Streifenbeamten zu lösen sind, sondern spezielles Training, Ausrüstung und Strukturen erfordern. Oberhausen wird so zur „Geburtsstunde“ der deutschen Spezialeinsatzkommandos.

 

Der Prozess von Duisburg: Lebenslang für Karl-Heinz Girod

Fast zwei Jahre nach der Tat beginnt im Februar 1974 der Schwurgerichtsprozess in Duisburg. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ist riesig. Karl-Heinz Girod, 45, und seine Ehefrau Brunhilde müssen sich wegen gemeinschaftlichen Mordes in drei Fällen und vierfachen Mordversuchs verantworten. Die Verteidigung versucht, den Angeklagten als Opfer eines Affektstaus darzustellen. Doch Gutachter attestieren ihm volle Schuldfähigkeit. Mit jedem Detail wird klarer: Girod wusste genau, was er tat. Seine Frau gilt als Gehilfin, die die Tat nicht verhinderte, sondern unterstützte. Der Prozess verdeutlicht, dass es hier nicht um einen unkontrollierten Amoklauf ging, sondern um einen kalkulierten Gewaltakt.

Die Richter verurteilen Karl-Heinz Girod zu lebenslanger Haft, seine Frau erhält 15 Jahre. Der Bundesgerichtshof verwirft später die Revision – das Urteil wird rechtskräftig. Für die Kinder der Familie bedeutet der Prozess eine endgültige Zäsur: Sie werden aus dem Elternhaus herausgelöst und in Obhut genommen. Die beiden ältesten Söhne, die selbst geschossen hatten, bleiben straffrei. Sachverständige erklären, der 16-Jährige sei nicht reif genug, um strafmündig zu gelten, der 13-Jährige ist ohnehin zu jung. Damit bleibt ein bitterer Nachgeschmack: Polizisten verloren ihr Leben, während die jugendlichen Täter nie strafrechtlich belangt wurden.

 

Lehren für Polizei und Medien: Der lange Schatten von Oberhausen

Das Massaker von Oberhausen wirkt bis heute nach. Für die Polizei wurde der Fall zum Auslöser einer umfassenden Professionalisierung. In der Folge beschloss die Innenministerkonferenz, Spezialeinsatzkommandos (SEK) einzurichten – Einheiten, die gezielt auf Waffenlagen, Geiselnahmen und psychisch instabile Täter reagieren können. Der Fall lehrte, dass improvisierte Durchsuchungen mit normalen Streifenkräften in hochgefährlichen Situationen fatal enden können. Auch für die Medien war Oberhausen eine Zäsur. Reporter, die mitten im Feuergefecht Interviews führten oder gar mit Tätern sprachen, verstießen gegen Grundprinzipien journalistischer Distanz.

Spätestens nach der Gladbecker Geiselnahme 1988 wurde der Pressekodex klarer formuliert: Journalisten dürfen nicht Teil des Einsatzgeschehens werden. Oberhausen markiert somit auch den Beginn einer Debatte über Verantwortung und Grenzen medialer Präsenz in Krisenlagen. Heute ist der Fall Teil der Polizeiausbildung, er wird in Seminaren zur Einsatzführung und Krisenkommunikation behandelt. Das Vermächtnis der getöteten Beamten besteht nicht nur in der Erinnerung, sondern auch darin, dass ihre Opfer dazu beitrugen, dass Polizeiarbeit in Deutschland sicherer und professioneller wurde.

 

Vom Einsatz zur Reform

4. Mai 1972

Amtsgericht Duisburg erlässt einen Durchsuchungsbeschluss wegen illegalen Waffenbesitzes gegen Karl‑Heinz Girod. Die Polizei ist, trotz bekannter Bewaffnung, nur unzureichend vorbereitet.

15. Juni 1972 – Vormittag

Routine-Hausdurchsuchung in der Beethovenstraße 24 in Oberhausen eskaliert: Karl-Heinz Girod erschießt drei Beamte, seine Frau und zwei Söhne liefern sich mit der Polizei ein über dreistündiges Feuergefecht. Insgesamt werden 388 Schüsse abgegeben.

Nach dem Einsatz (später 1972)

Das Innenministerium NRW erstellt einen Untersuchungsbericht. Die Eigensicherung wurde massiv vernachlässigt; der Einsatz entspricht nicht den taktischen und technischen Standards der kriminalistischen Durchsuchung. Das Vorgehen gilt als damals “Lehrbeispiel für Fehlverhalten”.

22. Juni 1972

Eine Woche nach dem Blutbad berät der Deutsche Bundestag über eine Verschärfung des Waffengesetzes, um unkontrollierte Bewaffnung künftig besser zu verhindern.

1974 – nach dem Fall

Auf Basis der Erfahrungen des Einsatzes beschließen die Länder für den Fall künftiger gefährlicher Einsätze die flächendeckende Gründung von Spezialeinsatzkommandos (SEK). Damit sollen Einsätze bei Bewaffneten oder psychisch instabilen Tätern gezielter gesteuert werden. (Hinweis: Der genaue Beschlusszeitpunkt liegt 1974; interne Reformen beginnen kurz danach.)

Februar 1974

Prozessbeginn am Schwurgericht Duisburg: Karl-Heinz Girod wird wegen dreifachem Mord zu lebenslanger Haft verurteilt, Brunhilde Girod wegen Beihilfe zu 15 Jahren. Das Urteil wird rechtskräftig bestätigt.

Ab 1974/75 fortlaufend

Polizeiliche Lehren werden institutsionalisiert: Einführung taktischer Ausbildung, klare Einsatzleitungsstrukturen, Trennung von Lageführung und Medienarbeit (Sprecherprinzip), verstärkte Einsatzplanung und Kommunikation, Einsatz von technischer Unterstützung (z. B. Funkkoordination, Atemschutz, Tränengas).

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