
Ein Name erschüttert derzeit die internationale Oldtimer-Szene: Klaus Kienle. Jahrzehntelang als Koryphäe der Mercedes-Restaurierung gefeiert, steht der schwäbische Unternehmer nun im Zentrum eines der größten mutmaßlichen Betrugsfälle in der Geschichte klassischer Fahrzeuge. Der Verdacht: Über Jahre hinweg sollen in seiner renommierten Werkstatt Fahrzeuge manipuliert, Identitäten gefälscht und Millionenbeträge durch systematische Täuschung generiert worden sein. Betroffen ist vor allem ein Mythos der Automobilgeschichte – der Mercedes-Benz 300 SL.
Kienles Weg begann in den 1950er-Jahren bei Daimler-Benz, wo er als Kfz-Schlosser tätig war. Bereits früh entwickelte er eine besondere Affinität zum 300 SL, jenem ikonischen Flügeltürer, der ab 1954 für Aufsehen sorgte. 1984 gründete Klaus Kienle schließlich seine eigene Firma im baden-württembergischen Heimerdingen. Aus einer kleinen Werkstatt wurde in den folgenden Jahrzehnten ein weltbekannter Restaurationsbetrieb: die Kienle Automobiltechnik GmbH. Das Unternehmen spezialisierte sich auf hochpreisige Mercedes-Klassiker, insbesondere die Baureihen 300 SL (W198) und Mercedes 600 (W100). Mit akribischer Liebe zum Detail, einem umfangreichen Teilelager und einer Philosophie kompromissloser Originaltreue erarbeitete sich Kienle internationales Renommee. Seine Fahrzeuge gewannen Preise auf Concours d’Elegance, erschienen in Magazinen und galten als wertstabile Kapitalanlagen.
Der Mercedes-Benz 300 SL ist nicht nur eine technologische Meisterleistung der Nachkriegszeit, sondern avancierte längst zu einem Kultobjekt. Vor allem Exemplare mit „Matching Numbers“, also übereinstimmenden Fahrgestell-, Motor- und Getriebenummern, erzielen Preise von einer bis über fünf Millionen Euro. Ein vollständiger, originaler 300 SL steht heute sinnbildlich für automobilen Purismus – aber auch für finanzielle Solidität. Sammler und Investoren weltweit setzen auf die Wertentwicklung dieser Fahrzeuge. In diesem Umfeld ist jeder Zweifel an der Authentizität nicht nur ein Liebhaberdrama, sondern ein ökonomischer Albtraum.
Ein Paradebeispiel für den vermuteten Betrug ist der Fall des Unternehmers Max Schuster. Er erwarb einen als vollständig original deklarierten 300 SL Roadster bei Kienle, dessen technische wie historische Dokumentation einwandfrei erschien. Doch nur Monate nach dem Kauf erfolgte eine Hausdurchsuchung durch das Landeskriminalamt. Der Wagen wurde beschlagnahmt. Die Experten stellten fest, dass die Fahrgestellnummer manipuliert war – die originale Identität wurde entfernt und durch eine gefälschte ersetzt. Der Wagen sollte eigentlich als Stiftungskapital für Schusters schwerbehinderte Tochter dienen. Stattdessen wurde er zum Beweismittel in einem möglichen Millionenbetrug.
Die Ermittlungen des LKA Baden-Württemberg legen nahe, dass es sich nicht um einzelne Fehler, sondern um ein jahrelanges, systematisches Vorgehen gehandelt haben könnte. Die Beschlagnahmung mehrerer 300 SL-Komponenten – darunter Gitterrohrrahmen, Fahrgestellfragmente, Motoren und Achsen – weist auf ein hochentwickeltes System hin. Fahrzeuge sollen gezielt „neu aufgebaut“ worden sein, mit Bauteilen aus verschiedenen Quellen, darunter mutmaßlich auch gestohlene Wagen. Alte Nummern wurden ausgeschliffen, neue eingeschlagen, Komponenten wie Motoren und Achsen zwischen Fahrzeugen getauscht. Das Ziel: Die Konstruktion eines möglichst authentisch wirkenden 300 SL, der sich hochpreisig verkaufen ließ.
Ein besonders spektakulärer Fall betrifft einen sogenannten Phantasiegelb lackierten 300 SL Roadster, der 1961 auf dem Genfer Automobilsalon gezeigt wurde. Jahrzehnte später wurde ein Wagen mit exakt dieser Identität – laut Papieren – über Kienle verkauft. Doch gleichzeitig wurde in der Schweiz ein zweiter 300 SL mit derselben Fahrgestellnummer entdeckt. Ermittlungen ergaben: Die Nummer am gelben Roadster war gefälscht, die Originalidentität wurde zuvor einem gestohlenen Fahrzeug übergestülpt. Der manipulierte Wagen landete schließlich beim König von Malaysia. Laut Ermittlungen handelt es sich dabei um eine der aufwendigsten Dubletten-Konstruktionen der Oldtimer-Geschichte. Bis zu 40 verdächtige Fahrzeuge mit ähnlichen Ungereimtheiten sollen laut internen Schätzungen im Umlauf sein.
Klaus Kienle selbst weist alle Vorwürfe zurück. Über seinen Anwalt ließ er verlauten, dass sein Unternehmen stets mit dem Ziel gearbeitet habe, Fahrzeuge in ihren originalgetreuen Zustand zurückzuversetzen. Gelegentlich habe man unleserliche oder falsch platzierte Nummern korrigiert, stets in gutem Glauben. Experten jedoch sehen das anders: Die Manipulation von identitätsstiftenden Teilen – insbesondere der Fahrgestellnummer – sei mit klassischen Restaurierungsarbeiten nicht vereinbar. Juristisch gelte eine veränderte FIN bereits als erheblicher Eingriff in die Eigentumsstruktur und könne eine vollständige Neuzulassung erfordern. In mehreren Fällen wurde nachgewiesen, dass Kienle-Fahrzeuge identische Identitäten wie bestehende Fahrzeuge trugen – eine Praxis, die in der Szene unter dem Begriff „Dublettenhandel“ bekannt ist.
Zeugenaussagen ehemaliger Mitarbeiter deuten auf ein tief verwurzeltes System hin. In internen Versammlungen sollen Eingriffe an Rahmennummern als „üblich“ bezeichnet worden sein. Der Umgang mit gestohlenen oder nicht vollständig dokumentierten Fahrzeugen sei Teil des Tagesgeschäfts gewesen. Die Razzia beim Unternehmen brachte neben Bauteilen auch umfangreiche Dokumentationen und digitale Daten zutage, darunter mutmaßliche Umbauprotokolle und Seriennummernverzeichnisse. Branchenexperten vergleichen die Struktur mit einem organisierten Fälschungsnetzwerk, das technisches Know-how mit kaufmännischer Raffinesse verband.
Der Skandal wirft auch Fragen an den Hersteller Mercedes-Benz selbst auf. Schon früh sollen Hinweise auf mögliche Unregelmäßigkeiten bei bestimmten Fahrzeugen an das Unternehmen herangetragen worden sein. Doch öffentlich Stellung bezog der Konzern zunächst nicht. Erst im Zuge der Insolvenz von Kienle Automobiltechnik Anfang 2024 übernahm Mercedes-Benz Teile des Betriebs, darunter Spezialwerkzeuge, Ersatzteile und Personal. Die Konzernkommunikation sprach von einem Schritt zur „Qualitätssicherung im Classic-Bereich“. Kritiker werfen Daimler hingegen vor, sich spät und vor allem aus Eigeninteresse in die Affäre einzuschalten. Ein Interview oder ein offizielles Statement zu den konkreten Vorwürfen lehnt Mercedes-Benz bis heute ab.
Der Fall Kienle wirft ein grelles Licht auf die Mechanismen eines Marktes, der sich gerne als elitär und exklusiv inszeniert. In der Oldtimer-Szene gelten Vertrauen und Reputation mehr als jede Prüfung. Viele Verkäufe erfolgen ohne detaillierte Herkunftsnachweise, häufig sogar in bar. Herstellerdokumente werden nicht standardmäßig überprüft, und die Angst vor Imageschäden hält viele Sammler davon ab, Fälschungen öffentlich zu machen. Der Kienle-Skandal zeigt: Diese Diskretion kann zur Achillesferse der Branche werden.
Ob Klaus Kienle ein isolierter Täter oder lediglich der prominenteste Vertreter eines größeren Problems ist, bleibt Gegenstand von Spekulationen. Fakt ist: Der Fall legt strukturelle Schwächen offen. In einem Markt, in dem Geschichte zu Geld wird, ist die Versuchung zur Manipulation groß. Ähnliche Fälle von Dubletten gab es auch bei Ferrari, Jaguar oder Aston Martin – oft jedoch ohne gerichtliche Konsequenzen. Der Fall Kienle könnte zum Wendepunkt werden. Erste Stimmen fordern nun ein zentrales Register für klassische Fahrzeuge, verpflichtende Hersteller-Zertifikate und eine unabhängige Prüfinstanz für Fahrzeugidentitäten.
Wie viele Mercedes 300 SL sind auf dem Weltmarkt echt – und wie viele leben unter falscher Identität? Der Fall Klaus Kienle ist noch lange nicht abgeschlossen, aber er hat schon jetzt das Fundament eines milliardenschweren Marktes erschüttert. Die Erkenntnis, dass selbst Ikonen wie der 300 SL nicht vor Fälschung gefeit sind, zwingt Sammler, Händler und Hersteller zum Umdenken. Ob Klaus Kienle verurteilt wird oder nicht: Sein Name steht bereits heute synonym für einen der größten Oldtimer-Skandale aller Zeiten.