
Es ist der 12. Februar 2018, ein Rosenmontag, kalt und grau. In einem Wohnhaus in Ottobrunn bei München findet der Notarzt den 87-jährigen Franz W. leblos in seinem Bett. Auf den ersten Blick scheint es ein natürlicher Tod zu sein – der Mann war alt, gebrechlich und pflegebedürftig. Doch bei der genaueren Leichenschau fallen dem Arzt Unregelmäßigkeiten auf: punktförmige Einblutungen im Mundbereich und hinter den Ohren. Eine ungewöhnliche Entdeckung, die schließlich dazu führt, dass die Polizei alarmiert und die Mordkommission eingeschaltet wird. Was als tragischer Einzelfall erscheint, entwickelt sich innerhalb weniger Tage zu einem der verstörendsten Serienverbrechen der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte.
Der 36-jährige Grzegorz W., ein polnischer 24-Stunden-Pfleger, ist zu diesem Zeitpunkt erst wenige Tage im Haus des Verstorbenen tätig. Es ist nicht das erste Mal, dass er für eine Familie in Deutschland arbeitet – im Gegenteil: Er hat bereits Dutzende Stellen in Pflegehaushalten angetreten, oft nur für wenige Wochen, manchmal sogar nur für Tage. Was jedoch keiner ahnt: Grzegorz W. bringt nicht Hilfe und Unterstützung – sondern Tod. Schon kurz nach seiner Ankunft bei Franz W. ruft dieser selbst die Polizei und gibt an, Einbrecher seien im Haus. Die Beamten nehmen die Anzeige nicht ernst. Der alte Mann sei verwirrt, heißt es. Zwei Tage später ist er tot.
Die Ermittlungen in Ottobrunn führen die Beamten bald zu einem entscheidenden Fund: Im Gepäck des Pflegers entdecken sie Bargeld, EC-Karten, Schmuckstücke und – besonders brisant – einen Insulin-Pen samt mehreren Ampullen. Grzegorz W. gibt an, selbst Diabetiker zu sein, und behauptet, er habe seine Medikamente lediglich für den Eigengebrauch dabei. Doch die Obduktion von Franz W. ergibt ein klares Bild: Der Mann ist an einer massiven Unterzuckerung gestorben. Sein Blutzuckerwert liegt bei 27 mg/dl – ein gefährlich niedriger Wert, der bei gesunden Menschen tödlich enden kann. Zudem weist der Körper des Toten Injektionsstellen auf, die sich durch keine ärztliche Verordnung erklären lassen. Die Toxikologin und das rechtsmedizinische Team bestätigen den Verdacht: Jemand hat Franz W. mutmaßlich absichtlich Insulin gespritzt – mit tödlicher Wirkung.
Während Grzegorz W. zunächst als Zeuge befragt wird, verdichten sich die Hinweise gegen ihn mit jeder Stunde. Sein Verhalten ist auffällig: Noch am Morgen nach dem Todesfall steht er mit gepackten Koffern bereit zur Abreise. Er zeigt kein Mitgefühl, hört im Wohnzimmer laut polnische Polka-Musik, während im Nebenzimmer der Leichnam liegt. Bei der Durchsuchung seiner Sachen finden die Ermittler Beweismaterial, das kaum Zweifel lässt. Und als schließlich auch noch EC-Karten und Geld des Verstorbenen auftauchen, ist klar: Dieser Mann ist nicht einfach nur ein überforderter Pfleger. Er ist ein Täter.
Sieben Monate zuvor, im Mai 2017, war Grzegorz W. bereits in einem anderen Fall auffällig geworden – doch niemand hörte hin. In Mülheim an der Ruhr zieht er als 24-Stunden-Kraft bei Heinrich Wischmann ein, einem 91-jährigen Mann mit Parkinson, Demenz und Herzschwäche. Die Familie des Seniors hat ein ungutes Gefühl, schon bei der ersten Begegnung. W. zeigt keinerlei Interesse am Patienten, fragt nur nach WLAN und Essen. Nur einen Tag später ist Heinrich Wischmann kaum noch ansprechbar, lallt, verliert das Bewusstsein. Der Notarzt wird gerufen, im Krankenhaus wird eine lebensbedrohliche Unterzuckerung festgestellt. Der Blutzuckerspiegel liegt unter 10. Ärzte sprechen offen den Verdacht aus, dass Insulin im Spiel sein muss.
Die Tochter meldet den Vorfall der Polizei, doch dort wertet man den Fall lediglich als „einfache Körperverletzung“. Grzegorz W. verlässt unbehelligt die Stadt – und zieht weiter zum nächsten Opfer. Dass Heinrich Wischmann wenige Tage später im Pflegeheim stirbt, löst keine weiteren Untersuchungen aus. Es ist ein Muster, das sich später bei den Ermittlungen immer wieder zeigen wird: Warnzeichen wurden ignoriert, Hinweise übersehen, Verdachtsmomente verharmlost. Niemand konnte oder wollte glauben, dass ein Pfleger ein Serienmörder sein könnte.
Insulin, das lebenswichtige Hormon für Diabetiker, wird in dieser Geschichte zur perfiden Mordwaffe. Es wirkt im Körper schnell, effektiv – und es hinterlässt kaum Spuren. Bei einer Überdosierung sinkt der Blutzuckerwert rapide ab, was zu Krampfanfällen, Bewusstlosigkeit und schließlich zum Tod führen kann. In einem Pflegekontext, in dem viele Patienten alt und bereits vorerkrankt sind, wird so ein Todesfall selten hinterfragt. Eine Obduktion findet oft nicht statt. Genau das nutzte Grzegorz W. offenbar gezielt aus.
Sein Auftreten war von Gleichgültigkeit und Kälte geprägt. Zeugenaussagen beschreiben ihn als schmuddelig, übergewichtig, oft distanziert und desinteressiert. Statt sich um das Wohl der Pflegebedürftigen zu kümmern, richtete er sein Augenmerk auf deren Wertsachen. Während er vorgab, nachts über die Patienten zu wachen, suchte er offenbar nach Gelegenheiten, um zuzuschlagen – mit einer tödlichen Dosis Insulin. Der Körper von Franz W. trug eindeutige Spuren: Injektionsstellen, die durch nichts zu erklären waren, gepaart mit einem fast auf Null gesunkenen Zuckerwert. Es war kein natürlicher Tod. Es war Mord.
Nachdem die Mordkommission in Ottobrunn die Beweise gesichert hat, wird Grzegorz W. offiziell wegen Mordverdachts festgenommen. Unter dem Druck der Beweise beginnt er zu wanken, bittet um Bedenkzeit, behauptet, er habe das Geld nur genommen, weil seine Mutter in Polen krank sei. Doch auf Fragen zur Insulingabe schweigt er. Die Ermittler geben sich damit nicht zufrieden. Sie wollen wissen: Wer ist dieser Mann wirklich? Und wie viele Opfer gibt es?
Sie beginnen, seine Arbeitshistorie zu prüfen – und stoßen auf eine erschreckende Bilanz: Grzegorz W. war bei über 69 Familien in ganz Deutschland im Einsatz. Viele der Einsätze dauerten nur wenige Tage. Mehrere Angehörige berichten im Nachhinein von seltsamen Vorkommnissen, von plötzlicher Verschlechterung des Gesundheitszustands, von auffälligem Verhalten des Pflegers. In einem Fall wird eine ältere Frau mit einer schweren Unterzuckerung ins Krankenhaus eingeliefert – auch hier war W. zuvor im Haus. Doch zu einer Anzeige kam es nie. Die Dunkelziffer möglicher Opfer ist hoch. Viel zu hoch.
Der Fall Grzegorz W. offenbart nicht nur das kriminelle Handeln eines Einzelnen, sondern auch ein tiefgreifendes strukturelles Versagen im deutschen Pflegesystem. Private Pflegevermittlungen operieren oft ohne ausreichende Kontrolle, ausländische Betreuungskräfte arbeiten legal in deutschen Haushalten – ohne dass ihre Qualifikation oder ihre Vergangenheit gründlich überprüft wird. So konnte ein Mann wie Grzegorz W., der schon als Jugendlicher kriminell auffällig war, als vermeintlicher Helfer an die verwundbarsten Menschen gelangen.