
Es ist der 4. Februar 2007, ein gewöhnlicher Winterabend im niedersächsischen Sittensen, einem beschaulichen Ort mit knapp 5.000 Einwohnern. Gegen 23 Uhr schließt das chinesische Restaurant „Lin Yue“ seine Türen. Die Tische sind noch liebevoll gedeckt, die letzten Vorbereitungen für den nächsten Tag laufen. Es ist ein Abend wie jeder andere. Doch nur wenig später wird das Restaurant zum Schauplatz eines der schlimmsten Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte.
In der Wohnung über dem Restaurant spielt die zweijährige Luzie unbeschwert mit einem Stofftier. Ihre Mutter, die Inhaberin des Restaurants, ist gerade in ein Telefongespräch mit einem Bekannten vertieft. Es geht um eine beschädigte Datei mit chinesischen Kinderliedern, die der Mann, ein IT-Experte, zu reparieren versucht. Im Hintergrund ist das fröhliche Kinderlachen der kleinen Luzie zu hören – ein Moment voller Unschuld.
Dann, plötzlich, durchbricht ein Geräusch die Idylle: panische Schreie, fremde Stimmen, ein abruptes Ende der Verbindung. Der Mann am anderen Ende der Leitung ist schockiert – und ahnt nicht, dass er soeben Zeuge des Beginns eines Massakers wurde.
Kurz darauf erreicht der Lebensgefährte einer Kellnerin das Restaurant, um seine Freundin abzuholen. Nichts bereitet ihn auf das vor, was ihn im Inneren erwartet. Beim Betreten des Gastraums tritt er in eine Blutlache. Vor ihm: zwei leblose Körper. Hinter dem Tresen entdeckt er seine erschossene Partnerin. Weitere Leichen sind über den Raum verteilt – ein Bild des Grauens.
Völlig überfordert wählt der Mann den Notruf. Seine ersten Worte: „Schönen guten Tag…“ – ein verstörender Reflex in einer Situation, die jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt.
Als die Polizei eintrifft, bietet sich ihr ein Bild wie aus einem Albtraum. Insgesamt sieben Menschen sind tot – kaltblütig erschossen. Doch ein kleines Mädchen überlebt das Blutbad: Luzie liegt unter einer Tischdecke, versteckt zwischen zwei Leichen, blutverschmiert, aber unverletzt. Später wird sie nur sagen: „Böse Männer waren da.“
Ein weiterer Mensch entgeht dem Tod ebenfalls – ein Mieter im dritten Stock, der zum Tatzeitpunkt mit Kopfhörern ein Computerspiel spielte und von dem Verbrechen nichts mitbekam.
Die Rekonstruktion des Tathergangs ergibt ein erschütterndes Bild. Gegen Mitternacht dringen drei maskierte Männer in das Restaurant ein. Sie sind bewaffnet, tragen Handschuhe und haben Kabelbinder dabei – ein geplanter Raubüberfall, offenbar sorgfältig vorbereitet. Sie fordern Geld, fesseln ihre Opfer – mit einer perfiden Methode: Hände und Füße werden gleichzeitig fixiert, insbesondere Daumen und große Zehen, um jede Bewegung zu unterbinden.
Als ein Mitarbeiter versucht zu fliehen, eröffnet einer der Täter das Feuer – auch ein zweiter flüchtender Koch wird erschossen. Der Schütze, nun teilweise unmaskiert, trifft eine grausame Entscheidung: Um keine Zeugen zu hinterlassen, beginnt er, gezielt alle Anwesenden zu exekutieren.
Die Morde sind systematisch. Mehrere Opfer werden mit aufgesetzten Kopfschüssen getötet. Teilweise wurden zuvor Tücher über die Köpfe gelegt – vermutlich, um Blutspritzer zu vermeiden. In einem Fall ging dem Mord sogar eine Strangulation mit einem Tuch voraus. Die Obduktionen zeigen: Einige Opfer erlitten stumpfe Gewalt, alle wiesen Spuren brutaler Fesselung auf.
Bereits am nächsten Tag nimmt der Fall eine überraschende Wendung. In einem VW Polo kontrollieren Polizisten zwei asiatische Männer. Der Grund: Drogenverdacht. Doch im Fahrzeug finden die Beamten mehr als nur Betäubungsmittel – darunter 5.000 Euro in bar und eine handgezeichnete Skizze des Restaurants „Lin Yue“. Die Männer hatten versucht, den Zettel im Fußraum zu verstecken – vergeblich.
Ein Durchbruch. Die Polizei stellt eine Sonderkommission mit über 100 Ermittlern auf. Die Spurenlage ist erdrückend: DNA-Spuren, Fingerabdrücke, Telefonüberwachungen. In monatelanger akribischer Arbeit entstehen über 32.000 Seiten Ermittlungsakten.
Die fünf Tatbeteiligten – alle vietnamesischer Herkunft – hatten sich in Deutschland unter prekären Lebensbedingungen kennengelernt. Der entscheidende Tippgeber war ein ehemaliger Aushilfskoch des Restaurants. Er kannte die Räumlichkeiten und Tagesabläufe genau. Die anderen Beteiligten hatten Schulden, lebten am Rande der Legalität – und planten den Überfall in der Hoffnung auf eine schnelle Lösung ihrer finanziellen Probleme.
Das Ziel: rund 10.000 Euro. Diese Summe fanden sie tatsächlich. Doch der Preis war unermesslich – sieben Menschen mussten dafür sterben.
Im Januar 2008 beginnt am Landgericht Stade der Mammutprozess gegen die Täter. Die Angeklagten versuchen anfangs, sich gegenseitig zu belasten, verstricken sich in Widersprüche. Später folgen teilweise Geständnisse.
Der Haupttäter – der Schütze – wird wegen siebenfachen Mordes und besonders schwerer Schuld zu lebenslanger Haft verurteilt. Für ihn ist eine vorzeitige Entlassung so gut wie ausgeschlossen. Die übrigen Angeklagten erhalten Strafen zwischen fünf Jahren und lebenslänglich – abhängig von ihrer individuellen Tatbeteiligung. Eine Abschiebung in ihre Heimatländer kommt nicht infrage: In Vietnam droht in solchen Fällen die Todesstrafe.
Der Fall von Sittensen ist bis heute einer der brutalsten und rätselhaftesten Mehrfachmorde in Deutschland. Die Kaltblütigkeit, mit der die Täter vorgingen, die Präzision der Tat und die Rücksichtslosigkeit gegenüber unschuldigen Menschenleben erschüttern bis heute. Was bleibt, ist das Entsetzen – und das stille Überleben einer kleinen Luzie, deren Leben an diesem Winterabend für immer verändert wurde.