Mordfall Birna Brjánsdóttir: Das Verschwinden in Reykjavíks Partynacht

Mordfall Birna Brjánsdóttir, Reykjavik
Reykjavík

Es war die Nacht vom 13. auf den 14. Januar 2017, als die 20-jährige Birna Brjánsdóttir zuletzt lebend gesehen wurde. Sie war mit Freunden in Reykjavík unterwegs, feierte ausgelassen und verabschiedete sich gegen fünf Uhr morgens, um zu Fuß nach Hause zu gehen. Um 5.25 Uhr zeichnete eine Überwachungskamera auf der Laugavegur, der Hauptstraße der Hauptstadt, ihre letzten Schritte auf. Danach verliert sich ihre Spur.

Als sie am nächsten Tag nicht zur Arbeit erschien, schlug ihre Familie Alarm. Schon bald begann die größte Suchaktion in der Geschichte Islands. Hunderte Polizisten und freiwillige Helfer beteiligten sich, ganz Reykjavík hielt den Atem an. Tagelang suchten Einsatzkräfte mit Hunden, Drohnen und Hubschraubern. Das Land verfolgte die Suche live in den Medien, denn solche Verbrechen galten in Island als beinahe unvorstellbar.

Der Wendepunkt kam, als in Hafnarfjörður, einem Hafen südlich der Hauptstadt, Birnas schwarze Stiefel gefunden wurden. Damit rückte das Meer in den Fokus der Ermittler und der Verdacht, dass ihr etwas Furchtbares zugestoßen war.

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Die Spur des roten Kia

Die Auswertung der Videoaufnahmen brachte schließlich einen roten Kia Rio ins Spiel. Das Fahrzeug wurde in derselben Nacht mehrfach in der Nähe des Ortes gesehen, an dem Birna zuletzt gefilmt worden war. Ermittler fanden heraus, dass der Wagen von zwei grönländischen Seeleuten gemietet worden war, die an Bord des Fischtrawlers Polar Nanoq arbeiteten. Einer kehrte gegen sechs Uhr morgens stark betrunken zurück auf das Schiff, der andere, ein 25-jähriger Matrose, blieb mit dem Wagen verschwunden.

Als das Auto einige Tage später gefunden wurde, entdeckte die Spurensicherung Blutspuren, die eindeutig Birna zugeordnet werden konnten. Auf dem Schiff der Männer fanden Ermittler außerdem Birnas Ausweis, auf dem sich der Fingerabdruck des Tatverdächtigen befand. Die Polizei stellte fest, dass der Mann kurz nach der Tat Reinigungsmittel gekauft hatte, um das Fahrzeug zu säubern. Damit war klar: Er hatte etwas zu verbergen.

Acht Tage nach dem Verschwinden entdeckte ein Hubschrauber der Küstenwache Birnas Leiche an einem Strand nahe des Selvogsviti-Leuchtturms. Die Obduktion ergab, dass sie durch Ertrinken gestorben war und vor ihrem Tod geschlagen und gewürgt wurde. Hinweise auf sexuelle Gewalt gab es keine. Die Tat hatte sich offenbar spontan entwickelt, doch die genauen Hintergründe blieben rätselhaft.

Die Tatnacht und das Urteil

Die Ermittlungen ergaben, dass der Täter Birna vermutlich in Hafnarfjörður begegnete und sie in sein Auto einsteigen ließ, ob freiwillig oder unter Druck, blieb unklar. Es kam zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf er sie schlug, am Hals packte und heftig schüttelte. Anschließend brachte er sie an die Küste und stieß sie ins Meer. Danach fuhr er zurück zum Schiff, als wäre nichts geschehen.

Als die Polar Nanoq wenig später in internationale Gewässer auslief, griffen isländische Spezialeinheiten zu und nahmen den Verdächtigen fest. Die Festnahme war juristisch umstritten, da sie ohne Zustimmung der dänischen Behörden erfolgte, wurde jedoch später als rechtmäßig bestätigt. Im Oktober 2017 verurteilte das Bezirksgericht Reykjavík den Mann wegen Mordes und Drogenschmuggels 19 Jahren Haft. An Bord des Schiffs waren 20 Kilogramm Haschisch gefunden worden. Das Urteil wurde 2018 vom Obersten Gerichtshof bestätigt. Mit dem Schuldspruch endete die Suche nach dem Täter, aber nicht die nach einem Motiv.

Die Suche nach dem Motiv

Warum musste eine junge Frau sterben, die einfach nur nach Hause wollte? Diese Frage beschäftigt Island bis heute. Der Täter selbst schwieg weitgehend oder änderte seine Aussagen mehrfach. Es gab keinen klaren Plan, keine erkennbare Vorgeschichte und kein nachweisbares Motiv. Dennoch haben sich über die Jahre mehrere Theorien herausgebildet, die versuchen, den Ablauf jener Nacht psychologisch und situativ zu erklären.

Alkohol und Kontrollverlust

Die naheliegendste Erklärung ist der massive Alkoholkonsum. Sowohl der Täter als auch sein Kollege waren in der Tatnacht stark betrunken. Ermittler gehen davon aus, dass der Mann die Kontrolle verlor, möglicherweise aggressiv oder verwirrt war und Birna im Affekt angriff. In Island wurde diese Theorie auch mit anderen Fällen spontaner Gewalttaten unter Alkoholeinfluss verglichen, etwa dem Fall Tryggvi Rúnar Leifsson (2004), bei dem eine harmlose Auseinandersetzung in tödliche Gewalt umschlug. Diese Erklärung deutet auf ein unkontrolliertes, impulsives Handeln hin, nicht auf eine geplante Tat.

Abgelehnte Annäherung

Einige Beobachter glauben, der Täter habe versucht, Birna kennenzulernen, und sie habe ihn abgewiesen. In dieser Interpretation wäre der Angriff das Ergebnis einer eskalierenden Situation, ausgelöst durch Zurückweisung und verletzten Stolz. Die Obduktion spricht gegen eine sexuelle Motivation, doch emotionale Kränkungen oder Aggressionsausbrüche können auch ohne sexuelles Motiv tödlich enden. Diese Dynamik erinnert an Fälle wie den Mord an der britischen Studentin Grace Millane (2018 in Neuseeland), bei dem ein scheinbar harmloses Aufeinandertreffen in Gewalt mündete.

Spontane Tat ohne nachvollziehbares Motiv

Kriminalpsychologen halten es für möglich, dass die Tat völlig sinnlos war, eine spontane Gewaltexplosion ohne rationalen Hintergrund. Der Täter war betrunken, möglicherweise unter Drogeneinfluss, isoliert von seinem gewohnten Umfeld und in einer emotional labilen Verfassung. In dieser Lesart wäre Birna einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Vergleichbare spontane Gewalttaten, etwa im Fall von Reeva Steenkamp in Südafrika, zeigen, dass manche Täter im Affekt handeln, ohne bewusste Absicht, zu töten und erst nach der Tat begreifen, was sie getan haben.

Angst vor Entdeckung

Da an Bord des Schiffes große Mengen Haschisch gefunden wurden, vermuteten einige, Birna könnte unbeabsichtigt etwas gesehen oder erfahren haben, das der Täter geheim halten wollte. Diese Theorie blieb spekulativ, da keine Hinweise darauf existieren, dass Birna über den Drogenschmuggel Bescheid wusste. Dennoch wurde diese Möglichkeit diskutiert, da sie erklären könnte, warum der Täter sie aus Panik angriff. Ein direkter Beweis hierfür wurde nie erbracht, und das Gericht sah keinen Zusammenhang zwischen den Drogen und dem Mord.

Gewalt als Ausdruck von Macht

Eine letzte Deutung bezieht sich auf die Persönlichkeit des Täters selbst. In einigen Medien wurde über mögliche Machtfantasien oder latente Aggressionen spekuliert, die im Alkoholrausch hervortraten. Eine forensische Untersuchung ergab, dass der Täter keine psychische Krankheit im engeren Sinne hatte, jedoch ein impulsives und wenig empathisches Verhalten zeigte. Diese Kombination, Alkohol, Impulsivität, situative Kontrolle, kann zu extremen Gewaltausbrüchen führen, wie sie in internationalen Kriminalfällen immer wieder beschrieben werden.

Mordfall Birna Brjánsdóttir: ein Land im Schockzustand

Island war durch den Mord an Birna Brjánsdóttir tief erschüttert. Gewaltverbrechen dieser Art sind dort äußerst selten, die Mordrate zählt zu den niedrigsten der Welt. In den Jahren 2000 bis 2012 wurden landesweit nur 25 Tötungsdelikte registriert. Der Gedanke, dass eine junge Frau von einem ihr völlig unbekannten Mann entführt und getötet wurde, löste landesweite Trauer und Fassungslosigkeit aus.