Mai 1993: Ein schockierendes Verbrechen erschüttert West Memphis
West Memphis, Arkansas, war in den frühen 1990er-Jahren eine typische Kleinstadt, in der Nachbarn sich kannten und Kinder unbesorgt auf den Straßen spielten. Doch am 5. Mai 1993 änderte sich das Leben der Bewohner schlagartig. Stevie Branch, Michael Moore und Christopher Byers, drei achtjährige Jungen, gingen wie gewohnt zur Schule und wurden später noch beim Spielen in ihrer Nachbarschaft gesehen. Doch am Abend kehrten sie nicht nach Hause zurück, was ihre Familien in Panik versetzte.
Eine großangelegte Suche begann sofort. Polizisten, Freiwillige und Anwohner durchkämmten die Umgebung die ganze Nacht hindurch. Am Nachmittag des 6. Mai fanden Suchende schließlich die Leichen der drei Jungen in einem Wassergraben im bewaldeten Gebiet von Robin Hood Hills. Die Kinder waren nackt, gefesselt und teilweise verstümmelt. Die Ermittler vermuteten, dass zwei der Jungen ertrunken waren, während der dritte an schweren Verletzungen starb. Die grausame Natur des Verbrechens sorgte in der Gemeinde für Entsetzen und Angst – wer könnte zu so einer abscheulichen Tat fähig sein?
Die Polizei konzentrierte sich bald auf drei lokale Jugendliche: Damien Echols, Jason Baldwin und Jessie Misskelley. Die drei Teenager waren als Außenseiter bekannt. Damien Echols trug schwarze Kleidung, hörte Heavy Metal und interessierte sich für okkulte Themen, was ihn in den Augen der Polizei verdächtig machte. In den frühen 1990er-Jahren waren die USA von der sogenannten „Satanic Panic“ geprägt – einer moralischen Panik, die satanistische Rituale und Verbrechen in den Fokus der Öffentlichkeit rückte. Die Polizei war überzeugt, dass die Morde mit satanischen Ritualen zusammenhingen, und richtete ihre Ermittlungen entsprechend aus.
Der vermeintliche Durchbruch in der Ermittlung kam, als Jessie Misskelley, ein 17-jähriger Junge mit einem Intelligenzquotienten von etwa 70, nach einem stundenlangen Verhör ein Geständnis ablegte. Doch das Geständnis war voller Widersprüche, enthielt falsche Details und wurde ohne Anwalt oder Eltern abgegeben. Misskelley widerrief es später und erklärte, er sei unter Druck gesetzt worden. Dennoch reichten seine Aussagen aus, um Anklage gegen ihn, Damien Echols und Jason Baldwin zu erheben.
Die Prozesse gegen die drei Jugendlichen fanden 1994 statt und waren stark von Vorurteilen und öffentlicher Meinung geprägt. Die Anklage stützte sich auf Misskelleys widerrufenes Geständnis, Aussagen von Zeugen, die später als unglaubwürdig eingestuft wurden, und die Interpretation des alternativen Lebensstils der Angeklagten als Beweis für satanistische Absichten. Physische Beweise, die die drei mit dem Tatort in Verbindung brachten, fehlten vollständig.
Trotz der fragwürdigen Beweislage wurden die West Memphis Three schuldig gesprochen. Jason Baldwin erhielt eine lebenslange Haftstrafe, Jessie Misskelley wurde zu lebenslanger Haft plus 40 Jahren verurteilt, und Damien Echols wurde zum Tod durch die Giftspritze verurteilt. Die Verurteilungen lösten gemischte Reaktionen aus: Während einige in der Gemeinde erleichtert waren, hatten andere Zweifel an der Schuld der Jugendlichen.
Der Fall blieb in den folgenden Jahren nicht unbemerkt. 1996 erschien die HBO-Dokumentation Paradise Lost: The Child Murders at Robin Hood Hills, die weltweit Aufmerksamkeit erregte. Der Film zeigte die Schwächen der Ermittlungen und die fragwürdige Beweisführung auf, was viele Zuschauer dazu brachte, die Schuld der West Memphis Three zu hinterfragen. Zwei Fortsetzungen der Dokumentation, Paradise Lost 2: Revelations (2000) und Paradise Lost 3: Purgatory (2011), beleuchteten den Fall weiter und trugen zur wachsenden Solidaritätsbewegung bei.
Prominente wie Johnny Depp, Eddie Vedder von Pearl Jam und Natalie Maines von den Dixie Chicks sprachen sich öffentlich für die Freilassung der drei Männer aus. Benefizkonzerte und Kampagnen sammelten Spenden für die rechtliche Verteidigung, und der Fall wurde zu einem Symbol für Ungerechtigkeit im Justizsystem.
Im Jahr 2007 präsentierte die Verteidigung neue DNA-Beweise, die keinen der Angeklagten mit dem Tatort in Verbindung brachten. Stattdessen wurde DNA des Stiefvaters eines der Opfer sowie eines Bekannten am Tatort gefunden. Diese Erkenntnisse warfen massive Zweifel an den ursprünglichen Urteilen auf. Doch die Justiz zeigte sich zögerlich, den Fall neu aufzurollen.
Nach fast zwei Jahrzehnten in Haft bot die Staatsanwaltschaft den West Memphis Three einen Alford-Plea an. Dieses juristische Manöver erlaubt es Angeklagten, ihre Unschuld zu beteuern, während sie sich gleichzeitig formal schuldig bekennen. Im Gegenzug wurden die Männer zu der bereits abgesessenen Zeit verurteilt und freigelassen. Am 19. August 2011 verließen Damien Echols, Jason Baldwin und Jessie Misskelley das Gericht als freie Männer. Doch der Schuldspruch blieb bestehen, und die wahren Täter blieben unentdeckt.
In den Jahren nach ihrer Freilassung blieben die Bemühungen, ihre Unschuld zu beweisen, ungebrochen. 2021 entdeckte Damien Echols‘ Rechtsteam Beweismaterial, das die Behörden zuvor als zerstört gemeldet hatten. Dieses Material, darunter die Schnürsenkel, mit denen die Opfer gefesselt waren, könnte mit modernen DNA-Technologien analysiert werden, um neue Hinweise zu finden. Doch die Staatsanwaltschaft blockierte bislang alle Versuche, diese Beweise erneut zu testen.
Ein Gericht in Arkansas lehnte 2022 den Antrag auf erneute DNA-Analysen ab, da Damien Echols nicht mehr in staatlichem Gewahrsam war. Diese Entscheidung enttäuschte nicht nur die West Memphis Three, sondern auch ihre Unterstützer, die weiterhin die Wahrheit über die Morde fordern.
30 Jahre nach den schrecklichen Ereignissen bleibt der Fall der West Memphis Three ein Symbol für die Schwächen des Justizsystems. Während die Suche nach den wahren Tätern andauert, kämpfen Damien Echols, Jason Baldwin und Jessie Misskelley weiterhin um vollständige Rehabilitierung. Für die Familien von Stevie, Michael und Christopher bleibt die Hoffnung, dass die Wahrheit eines Tages ans Licht kommt und die Gerechtigkeit, die ihnen bislang verwehrt blieb, endlich siegt.