
Münster. Seit mehreren Jahren nutzt die Polizei in Nordrhein-Westfalen ein mächtiges Analysewerkzeug namens DAR, das auf der US-amerikanischen Softwareplattform Palantir Gotham basiert. Ziel der Technologie ist es, große Datenmengen aus verschiedenen Quellen miteinander zu verknüpfen und Auffälligkeiten sichtbar zu machen – sei es bei Ermittlungen zu Sprengstoffdelikten, Kindesmissbrauch oder Clan-Kriminalität. Auch wenn Münster selbst keine eigene Palantir-Instanz betreibt, fließen die dort erhobenen Polizeidaten zentral in das System ein. Für Bürgerinnen und Bürger in Münster bedeutet das: Wer in irgendeiner Form in polizeiliche Vorgänge involviert ist, kann Teil eines Analyseprozesses werden, der längst automatisiert abläuft – und dessen rechtliche Grundlage umstritten ist.
Palantir Gotham wurde ursprünglich für Geheimdienste in den USA entwickelt und ist vor allem für die Fähigkeit bekannt, riesige Datenmengen in kürzester Zeit auszuwerten. In NRW wird die Software unter dem Namen DAR eingesetzt. Sie verknüpft polizeiliche Informationen aus unterschiedlichen Quellen: dazu zählen Ermittlungsakten, das Melderegister, Verkehrsdaten, Waffenregister oder sogar öffentlich zugängliche Online-Quellen. So entstehen innerhalb von Sekunden Verbindungen zwischen Personen, Orten, Fahrzeugen oder Kommunikationsmustern – alles automatisch berechnet. Ein Fall, den Palantir selbst immer wieder anführt: Ein mutmaßlicher Geldautomatensprenger konnte festgenommen werden, weil sein Auto an mehreren Tatorten identifiziert wurde. Die Software erkannte das Muster und stellte die Verbindung her.
Auch in anderen Bereichen kam das System bereits zum Einsatz – etwa bei der Analyse von Amokdrohungen, bei Einbruchsserien oder bei Gewaltdelikten im Clan-Milieu. Was viele jedoch nicht wissen: Die Daten, die diese Analysen ermöglichen, stammen aus dem gesamten Bundesland – also auch aus Münster. Damit wird die Stadt zu einer stillen Datenquelle für ein System, das kaum öffentlich hinterfragt wird.
In Münster werden jedes Jahr Tausende polizeiliche Vorgänge dokumentiert: Verkehrskontrollen, Anzeigen, Zeugenaussagen, Platzverweise bei Demos, Ermittlungen wegen Ordnungswidrigkeiten. All diese Daten werden in NRW zentral gespeichert – und stehen damit auch der DAR-Analyse zur Verfügung. Auch wer nicht beschuldigt ist, kann durch Kontakt mit anderen Personen oder durch auffällige Bewegungsmuster in die Auswertung geraten. In einer Stadt wie Münster, in der sich viele Menschen politisch engagieren, an Demonstrationen teilnehmen oder sich zivilgesellschaftlich einbringen, kann das zu unbeabsichtigten Folgen führen.
Denn die Software bewertet nicht nur, was jemand getan hat, sondern auch, mit wem er oder sie verknüpft ist – sei es online oder im echten Leben. Wer also regelmäßig auf Demonstrationen fotografiert wird oder sich in Chatgruppen äußert, die unter Beobachtung stehen, könnte als „potenziell relevant“ eingestuft werden – auch ohne jede Straftat. Das System funktioniert wie eine digitale Rasterfahndung, bei der Beziehungen und Muster wichtiger sind als individuelle Unschuld.
Im Februar 2023 erklärte das Bundesverfassungsgericht zentrale Regelungen in den Polizeigesetzen von Hessen und Hamburg für verfassungswidrig. Dort wurden ähnliche Systeme wie DAR eingesetzt, die ebenfalls auf Palantir Gotham basieren. Die Richter urteilten: Die präventive Auswertung personenbezogener Daten ohne konkreten Verdacht verstößt gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Daten dürfen nur unter engen gesetzlichen Voraussetzungen analysiert werden – etwa bei konkreter Gefahr oder im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens.
Auch DAR in NRW beruht auf präventiven Datenverknüpfungen. Die Software analysiert Informationen aus ganz NRW – einschließlich der Polizeidaten aus Münster. Trotzdem läuft das System weiter, gestützt auf eine Übergangsregelung. Eine gesetzliche Anpassung steht noch aus. Damit befindet sich das gesamte System in einer rechtlichen Grauzone. Bürgerrechtler fordern, dass der Einsatz sofort gestoppt oder zumindest stark eingeschränkt wird, bis eine verfassungskonforme Lösung vorliegt.
Statt auf die verfassungsrechtliche Kritik zu reagieren, plant das Land NRW sogar eine Erweiterung des Systems. Bis Ende 2025 sollen neue KI-Server in Betrieb genommen werden, die noch schneller und noch umfassender analysieren können. Gleichzeitig fordern mehrere Bundesländer und der Bundesrat eine einheitliche Datenanalyseplattform für alle Polizeien – mit Palantir als möglichem Standardanbieter. Sachsen-Anhalt hat bereits Interesse bekundet.
Diese Entwicklung betrifft auch Münster direkt. Denn künftig könnten neben klassischen Polizeidaten auch offene Online-Quellen einbezogen werden – etwa Social Media, Foren oder Messenger-Dienste. Wer in Münster also in einem politischen Kontext aktiv ist, online diskutiert oder sich öffentlich äußert, könnte ebenfalls in die Datenanalyse einbezogen werden. Die Grenze zwischen legitimer Aktivität und algorithmischer Risikobewertung wird dabei immer unschärfer.
In einer Stadt wie Münster, die für ihr starkes bürgerschaftliches Engagement und eine kritische Öffentlichkeit bekannt ist, sollte die Nutzung solcher Technologien nicht im Verborgenen stattfinden. Die Entscheidung, welche Daten erhoben, wie sie verarbeitet und auf welcher Grundlage sie analysiert werden, betrifft alle.
Quellen:
Bundesverfassungsgericht. (2023, 16. Februar). Verfassungswidrigkeit der automatisierten Datenanalyse durch die Polizei (Az. 1 BvR 1547/19 u. a.). Abgerufen von https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2023/02/rs20230216_1bvr154719.html
Datenschutzticker. (2022, 15. Juni). Überblick zur umstrittenen Palantir-Software. Abgerufen von https://www.datenschutzticker.de/2022/06/ueberblick-zur-umstrittenen-palantir-software/
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Zeit Online. (2025, 3. März). Palantir: US-Software für deutsche Polizeien sorgt für Kritik. Abgerufen von https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2025-03/palantir-us-software-analyse-polizei-sicherheit