
Sarah Scazzi war 15 Jahre alt, als sie im August 2010 spurlos verschwand. Sie lebte im kleinen süditalienischen Dorf Avetrana, einem Ort mit engen sozialen Strukturen und schweigenden Nachbarschaften. Sarah war ein unbeschwertes Mädchen, das von einem Leben außerhalb der Enge des Dorfes träumte. Sie sprach häufig davon, eines Tages auf einem Kreuzfahrtschiff zu arbeiten und die Welt zu sehen. Zu ihren engsten Bezugspersonen gehörte ihre ältere Cousine Sabrina Misseri, die mit 22 Jahren ein ganz anderes Leben führte: Sie lebte bei ihren Eltern Cosima Serrano und Michele Misseri, einer Familie mit starken Spannungen zu Sarahs Mutter Concetta.
Die Schwestern Cosima und Concetta hatten seit Jahren kaum Kontakt, ein Umstand, der das spätere Drama noch verstärkte. Der Sommer 2010 brachte neue Konflikte, denn Sarah bewegte sich zunehmend in Sabrinas Clique. Im Mittelpunkt stand der gemeinsame Bekannte Ivano Russo, ein älterer Jugendlicher, der bald zum Auslöser von Eifersucht und Rivalität wurde. Am Vorabend des Verschwindens kam es nachweislich zu einem heftigen Streit zwischen den Cousinen, ein Streit, den Sabrina gegenüber der Polizei zunächst leugnete und stattdessen von harmonischen Stunden sprach. Doch spätere Aussagen von Freundinnen belegten, dass die Beziehung zwischen Sarah und Sabrina längst von Eifersucht überschattet war. In diesem Spannungsfeld aus familiären Konflikten, jugendlicher Rivalität und dem Wunsch nach einem anderen Leben begann die tragische Geschichte, die Italien monatelang in Atem halten sollte.
Der 26. August 2010 begann für Sarah wie ein normaler Sommertag. Gegen 14:00 Uhr verließ sie das Elternhaus in Avetrana, um zu ihrer Cousine Sabrina zu gehen. Doch Sarah kam dort nie an. Schon bald entstand ein Bild, das den Fall prägen sollte: Sabrina trommelte Nachbarn und Freunde zur Suche zusammen und sprach von einer möglichen Entführung. Während das Dorf in Bewegung geriet, reagierten die meisten Bewohner auffällig zurückhaltend. Viele gaben an, nichts gesehen oder gehört zu haben – ein Schweigen, das später als eine Form von „Omertà“ beschrieben wurde. Schon früh tauchten Widersprüche auf: Sabrina konnte die Kleidung Sarahs exakt beschreiben, obwohl sie vorgab, ihre Cousine an diesem Tag nicht gesehen zu haben.
Ihre Erklärung: Eine rumänische Haushälterin habe ihr davon berichtet. Hinzu kamen technische Daten, die Zweifel nährten. Handy-Ortungen deuteten darauf hin, dass Sarah sich zeitweise im selben Haus wie Sabrina aufgehalten hatte, zu einem Zeitpunkt, als sie bereits nicht mehr am Leben war. Auch der spätere Fund von Sarahs Handy durch Michele Misseri in einem Olivenhain weckte Misstrauen. Die Polizei zweifelte an einem Zufall, zumal der Fund zeitlich so wirkte, als sei er inszeniert. Der Fall entwickelte sich schnell zu einem nationalen Medienthema, das Italien elektrisierte. In TV-Sendungen wurde spekuliert, in Talkshows über Täterprofile diskutiert. Avetrana wurde über Nacht vom verschlafenen Dorf zum Symbol einer Gemeinschaft, die schwieg, während ein junges Mädchen verschwand.
Am 6. Oktober 2010 kam es zur dramatischen Wende. Michele Misseri, Sarahs Onkel und Vater von Sabrina, legte ein Geständnis ab. Er behauptete, Sarah in seinem Haus erwürgt und versucht zu haben, sich ihr sexuell zu nähern. Anschließend habe er die Leiche in einer Wasserzisterne außerhalb des Dorfes entsorgt. In Begleitung der Polizei führte er die Ermittler zum Brunnen, in dem Sarahs Leichnam tatsächlich gefunden wurde. Dieser Moment wurde zu einem der umstrittensten der italienischen Mediengeschichte. In einer Live-Sendung wurde Sarahs Mutter Concetta mit dem Geständnis und dem Leichenfund konfrontiert, ohne Vorbereitung, ohne Schutz. Die Bilder gingen um die Welt und verstärkten den Eindruck eines Falls, in dem das Private schamlos öffentlich gemacht wurde.
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Am 9. Oktober 2010 fand Sarahs Beerdigung statt, übertragen von Fernsehkameras, begleitet von tausenden Menschen. Doch Micheles Geständnis hielt nicht lange. Schon bald widerrief er es und erklärte, er habe nur seine Tochter Sabrina schützen wollen. Später änderte er seine Aussagen mehrfach. Mal präsentierte er sich als Einzeltäter, mal verwies er auf die Rolle seiner Frau Cosima. Diese widersprüchlichen Aussagen sollten das Verfahren in den kommenden Jahren prägen. Was blieb, war der schreckliche Fund der Leiche, ein Geständnis, das wie ein Kartenhaus zusammenfiel, und eine Familie, deren innere Konflikte nun zum Gegenstand öffentlicher Spekulation wurden.
Der Prozess begann am 10. Januar 2012 vor der Corte d’Assise in Taranto. Es war von Anfang an klar, dass es sich um einen Indizienprozess handeln würde. Konkrete Beweise, wie Tatwaffe oder eindeutige DNA-Spuren, fehlten. Stattdessen stützte sich die Anklage auf Telefondaten, widersprüchliche Zeugenaussagen, Tagebucheinträge und die auffällige Rolle von Sabrina im medialen Geschehen. Besonders belastend wirkte das Zeugnis eines Blumenhändlers, der erklärte, er habe gesehen, wie Cosima und Sabrina Sarah ins Auto zogen. Später widerrief er diese Darstellung, sprach sogar von einem Traum.
Dennoch hielten die Richter seine ersten Angaben für glaubwürdig. Eine entscheidende Rolle spielten auch die Handydaten: Sarahs Telefon wurde noch nach ihrem Verschwinden geortet, und mehrere Verbindungen deuteten klar auf den Aufenthaltsort im Haus der Misseris hin. Die Anklage konstruierte daraus das Bild einer Tat im Zusammenwirken von Mutter und Tochter. Am 20. April 2013 folgte das Urteil: Lebenslange Haft für Sabrina Misseri und ihre Mutter Cosima Serrano. Michele wurde wegen Leichenbeseitigung und Strafvereitelung zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Weitere Angehörige erhielten Strafen wegen Beteiligung an der Beseitigung oder Falschaussagen. Die Verteidigung sprach von einem Fehlurteil, die Staatsanwaltschaft von einem exemplarischen Fall häuslicher Machtverhältnisse und Eifersucht. Der Druck der Öffentlichkeit war enorm, die Medien berichteten täglich. Doch die Frage, ob die Wahrheit vollständig ans Licht kam, blieb bis heute umstritten.
Auch nach den endgültigen Urteilen – 2017 bestätigte das Kassationsgericht die lebenslangen Haftstrafen – blieb der Fall in Italien ein Reizthema. Michele Misseri wurde 2024 aus der Haft entlassen und beharrt seither darauf, der alleinige Täter gewesen zu sein. Sabrina und Cosima bestreiten bis heute ihre Schuld. Mehrere Nebenverfahren wegen Falschaussagen und Irreführung der Ermittlungen („depistaggi“) endeten teils mit Verurteilungen, teils mit Verjährungen. Avetrana, das Dorf der Schweigsamen, ist zum Synonym für eine ganze Gemengelage aus familiären Konflikten, Eifersucht, Macht und Schweigen geworden. Hinzu kommt die Rolle der Medien, die durch Live-Schaltungen und Dauerberichterstattung eine Atmosphäre schufen, in der sich privates Leid und öffentlicher Voyeurismus vermischten. Der Fall inspirierte Bücher, Dokumentationen und zuletzt eine Miniserie, die erneut Debatten über Wahrheit, Verantwortung und Schuld auslöste.
Bis heute bleibt offen, ob der Prozess die tatsächlichen Abläufe restlos aufgeklärt hat oder ob Michele Misseris widersprüchliche Geständnisse ein dunkles Geheimnis verdecken. Sicher ist nur: Der Mord an Sarah Scazzi hat tiefe Spuren in der italienischen Gesellschaft hinterlassen. Er steht exemplarisch für die zerstörerische Kraft von Eifersucht und familiären Spannungen und für das Schweigen einer Gemeinschaft, die zu lange nichts gesagt hat.
Sommer 2010
Sarah (15) verbringt viel Zeit mit Cousine Sabrina (22).
Streitigkeiten wegen Ivano Russo, einem älteren Freund.
August: Heftiger Streit zwischen Sarah und Sabrina am Vorabend des Verschwindens.
26. August 2010
Gegen 14:00 Uhr: Sarah verlässt ihr Elternhaus, will zu Sabrina gehen.
Sie kommt dort nie an.
14:00–14:20 Uhr: Zeuge will Cosima & Sabrina mit Sarah gesehen haben.
14:42 Uhr: Sabrinas Anruf auf Sarahs Handy, eingeloggt an der Funkzelle der Misseri-Garage.
Erste Suchaktionen beginnen.
September 2010
29. September: Michele Misseri „findet“ Sarahs Handy in einem Feld. Polizei zweifelt an Zufall.
6. Oktober 2010
Michele gesteht Mord und Leichenbeseitigung, führt Polizei zur Zisterne in Contrada Mosca.
Sarahs Leichnam wird gefunden.
Geständnis wird Concetta live in TV-Sendung „Chi l’ha visto?“ übermittelt.
9. Oktober 2010
Beerdigung von Sarah in Avetrana, großes Medienereignis.
2010–2011
Michele widerruft Geständnis mehrfach, beschuldigt mal sich selbst, mal Sabrina und Cosima.
Ermittler analysieren Handy- und Zeugendaten, sehen Hinweise auf Mitwirkung von Mutter & Tochter.
10. Januar 2012
Prozessbeginn vor Corte d’Assise Taranto.
20. April 2013
Urteil: Lebenslange Haft für Cosima Serrano & Sabrina Misseri.
Michele: 8 Jahre wegen Leichenbeseitigung.
Weitere Angehörige: Haftstrafen wegen Mitwirkung und Irreführung.
2015–2017
Berufung bestätigt Urteile.
Februar 2017: Kassationsgericht macht Lebenslang für Cosima & Sabrina endgültig.
2018–2021
Nebenprozesse wegen Falschaussagen („Depistaggi“), teils Verurteilungen, später Verjährungen.
EGMR-Beschwerde wird 2021/24 abgewiesen.
Februar 2024
Michele Misseri wird aus der Haft entlassen.
Er behauptet weiter, der alleinige Täter zu sein.