
Viele verbinden den Tatort Münster untrennbar mit dem chaotisch-charmanten Duo Thiel und Boerne. Doch der allererste in Münster gedrehte Tatort gehörte noch gar nicht zu dieser Reihe – er war eigentlich ein Bremer Fall. Im Jahr 2000 wurde die Episode „Alles wird gut“ in Münster gedreht, ermittelt vom Bremer Team Inga Lürsen und Nils Stedefreund. Damit trat erstmals die westfälische Universitätsstadt als Tatort-Schauplatz ins Rampenlicht, allerdings mit den bereits etablierten Bremer Kommissaren an vorderster Front. Inga Lürsen, gespielt von Sabine Postel, war seit 1997 als Hauptkommissarin für Radio Bremen im Einsatz, und Oliver Mommsen gab als junger Kollege Nils Stedefreund dem Team frischen Wind. Für diesen Fall verschlug es die Bremer Ermittler ins Münsterland – ein durchaus ungewöhnlicher Coup, da Münster damals noch kein eigenes Tatort-Team hatte. Aus produktionstechnischer Sicht handelte es sich um eine Radio-Bremen-Folge, die in Kooperation mit dem WDR in Münster realisiert wurde. Dadurch konnten die Macher die reizvolle Kulisse Münsters nutzen, ohne sofort ein neues Ermittlerduo einzuführen. Der Filmservice Münster.Land – eine Einrichtung des städtischen Presseamts – unterstützte schon bei diesen Dreharbeiten die Umsetzung vor Ort. In Münster selbst war die Spannung groß: Erstmals rollten Tatort-Kamerateams durch die Altstadt, was lokale Medien und Schaulustige aufmerksam verfolgten. Auch wenn „Alles wird gut“ heute fast in Vergessenheit geraten ist, markiert diese Episode den Auftakt für Münster als Tatort-Schauplatz – noch bevor Thiel und Boerne die Bildschirme eroberten.
Nach dem Bremer Gastspiel war klar: Münster bot Potenzial für mehr. Der Westdeutsche Rundfunk entschied sich, der Stadt ein eigenes Tatort-Team zu geben. 2002 war es dann soweit: Hauptkommissar Frank Thiel und Rechtsmediziner Prof. Karl-Friedrich Boerne traten ihren Dienst an. Die Drehbuchautoren Stefan Cantz und Jan Hinter entwickelten im Auftrag des WDR ein Krimi-Konzept, bei dem ihnen der Handlungsort Münster von Anfang an vorgegeben war. Mit Axel Prahl als bodenständigem, aus Hamburg versetztem Kommissar Thiel und Jan Josef Liefers als exzentrisch-intellektuellem Gerichtsmediziner Boerne war ein ungleiches Paar gefunden, das frischen Wind in die Tatort-Landschaft brachte. Die erste Folge „Der dunkle Fleck“ (Oktober 2002) zeigte sofort die besondere Mischung: knackige Krimihandlung gepaart mit viel pointiertem Humor und spritzigen Dialogen. Dieser ungewöhnliche Tonfall – mehr Klamauk und Wortwitz als bei anderen Tatorten – traf den Nerv der Zeit und hob Münster deutlich von den übrigen Tatort-Teams ab. Schon nach wenigen Fällen avancierten Thiel und Boerne zum Quotenhit: Im Schnitt erreichen die Münster-Tatorte die höchsten Einschaltquoten aller Teams, regelmäßig zweistellige Millionenzahlen. Einige Episoden stellten sogar Rekorde auf – so verfolgten 2013 fast 13 Millionen Zuschauer den Fall „Summ, Summ, Summ“, seinerzeit die höchste Tatort-Quote seit über 20 Jahren. Münster hatte sich damit endgültig vom einmaligen Experiment zur fest etablierten Tatort-Größe gemausert. Seit 2002 produziert der WDR jedes Jahr zwei Münster-Folgen, die meist am Sonntagabend zur Primetime ausgestrahlt werden. Aus dem einstigen Testlauf mit Bremer Beteiligung wurde so eine eigene Erfolgsserie innerhalb der Tatort-Reihe.
Bemerkenswert an Münsters Tatort-Team ist die personelle Konstanz. Seit über 20 Jahren ermitteln Prahl und Liefers in unveränderter Besetzung – ein Novum im Tatort-Universum, in dem sonst häufig nach einigen Jahren die Ermittler wechseln. Vom ersten Fall 2002 bis heute standen in Münster stets dieselben Hauptdarsteller vor der Kamera. Doch nicht nur das Duo Thiel/Boerne blieb erhalten: Auch wichtige Nebenfiguren sind über die Jahre hinweg dabei. Die resolute Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann), „Alberich“ Silke Haller (Christine Urspruch) als Boernes spitzzüngige Assistentin und Thiels kauziger Vater Herbert (Claus Dieter Clausnitzer) gehören seit fast Beginn zum festen Ensemble. Dieses eingespielte Team hat wesentlich zum Erfolg beigetragen. Schauspielerin Mechthild Großmann betonte, dass gerade die vielen Stammspieler im Münster-Tatort ein Erfolgsfaktor sind. Tatsächlich wirkt das Zusammenspiel der Figuren auf die Zuschauer familiär und eingespielt – man „kennt“ seine Münsteraner Ermittler mittlerweile so gut wie alte Bekannte. Während andere Tatort-Städte im Laufe der Zeit neue Kommissare bekamen oder Umbesetzungen vornehmen mussten, blieb Münster von solchen Wechseln verschont. Nie zuvor hat ein Tatort-Team so lange in Originalbesetzung durchgehalten. Diese Stabilität kommt an: 2011 kürten Zuschauer Prahl und Liefers per Goldene-Kamera-Leserwahl zum „besten TV-Krimi-Team“, und 2012 wurde das gesamte Münsteraner Schauspieler-Ensemble für seine langjährige Leistung für den Grimme-Preis nominiert. Münster ist somit in der Tatort-Welt zu einem Synonym für Beständigkeit und Erfolg geworden.
Nicht nur vor den Fernsehschirmen, auch in Münster selbst hat der Tatort einen Siegeszug hingelegt. Die Stadt genießt die Aufmerksamkeit – und tut einiges, um sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Außenaufnahmen werden regelmäßig an Originalschauplätzen in Münster gedreht, um Lokalkolorit einzufangen. So erkennt das heimische Publikum immer wieder ikonische Orte: Etwa die prinzipalmarkt-Giebelhäuser in der Altstadt, den Domplatz oder den idyllischen Aasee. Das prächtige fürstbischöfliche Schloss Münster (heute Uni-Rektorat) dient in manchen Folgen als Kulisse – etwa als fiktiver Sitz der Rechtsmedizin, in der Professor Boerne arbeitet. Thiels Dienstwege führen ihn in der Serie oft per Motorrad durch die echten Straßen der Stadt. In Realität finden aus Kostengründen zwar viele Studio-Drehs in Köln statt, doch die Münster-Panoramen und Straßenszenen gehören zum festen Bild jeder Folge. Die Bevölkerung der Stadt reagiert stolz und mit ein wenig Augenzwinkern auf „ihren“ Tatort. Wenn gedreht wird, sind Schaulustige am Set keine Seltenheit, und die Lokalpresse berichtet eifrig über neueste Drehorte oder spannende Gastdarsteller. Längst hat Münster seinen Ruf als „Krimistadt“ erkannt: Stadtmarketing und Tourismus werben aktiv mit Tatort und Co. – Stadtführungen zeigen Fans die Schauplätze aus Tatort und der ZDF-Serie Wilsberg, die ebenfalls in Münster spielt. In der Tat bezeichneten lokale Medien die Münster-Krimis schon als „beste Werbung zur besten Sendezeit“ für die Stadt. Die Mischung aus malerischer Kulisse und skurrilem Krimispaß hat Münster einen echten Kultstatus verschafft. Während andere Tatorte für harte Sozialdramen stehen, gilt Münster als das humorige Gegenprogramm – und genau das lieben die Zuschauer. In den Kneipen der Altstadt versammeln sich am Tatort-Sonntag nicht selten Fans zum Public Viewing, um gemeinsam mit Thiel und Boerne mitzufiebern und zu lachen.
Was einst mit einem „Leih-Team“ aus Bremen begann, hat sich über die Jahre zu einem Aushängeschild Münsters entwickelt. Heute ist es kaum vorstellbar, dass der erste Münster-Tatort gar nicht vom heimischen Duo gelöst wurde. Doch gerade dieser ungewöhnliche Start macht deutlich, welchen erfolgreichen Sonderweg Münster im Tatort-Kosmos genommen hat. Aus dem Bremer Probelauf entstand eine der beliebtesten Krimireihen Deutschlands – ein Tatort, der Münster bundesweit bekannt und für die Münsteraner selbst zur Herzensangelegenheit gemacht hat.