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Münster, November 1976: Die Entführung des Springreiters Hendrik Snoek

Hendrik Snoek
Fotograaf Onbekend / Anefo, CC0, via Wikimedia Commons

Der erst 28-jährige Springreiter Hendrik Snoek, Spross einer wohlhabenden Unternehmerfamilie, wurde Opfer einer der spektakulärsten Entführungen der deutschen Nachkriegsgeschichte. In einer kalten Novembernacht drangen Kidnapper in Snoeks Wohnung in Münster ein und verschleppten den Ratio-Erben an einen Ort, der bizarrer kaum sein konnte: einen hohlen Brückenpfeiler einer Autobahn. Was folgte, war ein nervenaufreibendes Katz-und-Maus-Spiel um Lösegeld, Leben und Tod – mit einem glücklichen, wenn auch dramatischen Ende.

Hintergrund: Welle von Entführungen in den 1970er-Jahren

Mitte der 1970er-Jahre häuften sich in Westdeutschland Entführungsfälle, bei denen es den Tätern um hohe Lösegelderpressungen ging. Wohlhabende Familien gerieten ins Visier von Kriminellen, die bereit waren, mit brachialer Gewalt und perfiden Verstecken ihre Opfer gefangen zu halten. So ereigneten sich allein in der zweiten Jahreshälfte 1976 mehrere aufsehenerregende Fälle, etwa die Entführungen des Fuldaer Unternehmers Wolfgang Gutberlet und des Karlsberg-Erben Gernot Egolf im Oktober sowie die Fälle Richard Oetker und Eustachius Hell im Dezember. In dieser Serie von Verbrechen reiht sich auch die Entführung von Hendrik Snoek ein – ein Fall, der die Republik schockierte und breite Medienaufmerksamkeit erregte.

Der Überfall in Münster

Hendrik Snoek war nicht nur ein bekannter Sportler – als Springreiter gewann er bereits Europameisterschaftsgold mit der Mannschaft – sondern auch der Sohn des Gründers der Ratio-Handelsgruppe. In der Nacht vom 2. auf den 3. November 1976 wähnte er sich sicher in seiner Münsteraner Privatwohnung, als gegen 2:30 Uhr zwei maskierte Männer gewaltsam eindrangen. Unter vorgehaltener Waffe wurde Snoek überwältigt, gefesselt und aus seinem Zuhause entführt. Niemand bemerkte zunächst das Verbrechen, und die Kidnapper konnten unbemerkt mit ihrem Opfer fliehen. Ihr Ziel lag fast 200 Kilometer entfernt in Hessen.

Gefangen im Brückenpfeiler

Die Entführer hatten ein Versteck gewählt, das ebenso kühn wie grausam war: einen Hohlraum in einem Pfeiler der Ambachtalbrücke an der Autobahn A45 bei Herborn. In etwa 52 Metern Höhe, direkt unter der Fahrbahn der Autobahn, brachten sie Hendrik Snoek in einem engen Schacht unter. Dort ketteten sie ihn mit einer schweren Eisenkette um den Hals an die Wand des Brückenpfeilers. In völliger Dunkelheit, zwischen Betonwänden, musste Snoek ausharren. Die Temperaturen sanken in diesen Novembertagen bis zum Gefrierpunkt – ein lebensbedrohlicher Umstand für jemanden, der ohne ausreichenden Schutz festgehalten wurde. Jeder vorbeirasende Lastwagen ließ die Brücke erzittern und verstärkte die Isolation und Angst des Entführungsopfers.

Lösegeldforderung an die Familie

Kurz nach der Entführung setzten sich die Kidnapper mit Snoeks Familie in Verbindung. Ihre Forderung: fünf Millionen Deutsche Mark Lösegeld. Eine enorme Summe, die den Ernst der Lage verdeutlichte. Die Täter instruierten die Eltern genau, wie die Übergabe ablaufen sollte. Ausdrücklich verlangten sie, dass Breido Graf zu Rantzau – Hendrik Snoeks engster Freund und zugleich Schwager – das Geld überbringen solle. Offenbar hofften die Entführer, so unauffälliger an das Lösegeld zu gelangen, ohne polizeiliche Tricks befürchten zu müssen. Die Familie Snoek zögerte nicht: In Sorge um das Leben ihres Sohnes erklärten sich die Eltern bereit, die Forderung zu erfüllen. Innerhalb kürzester Zeit wurde die gewaltige Summe aufgetrieben.

In den frühen Morgenstunden des 5. November 1976 fand schließlich an einem vereinbarten Treffpunkt in der Nähe von Frankfurt am Main die Lösegeldübergabe statt. Genau wie von den Kidnappern angeordnet, übergab Graf zu Rantzau das Geldkoffer mit den fünf Millionen Mark an einen der Entführer. Die Gangster ergriffen das Lösegeld – und verschwanden spurlos in der Dunkelheit. Doch von Hendrik Snoek fehlte weiterhin jede Spur. Entgegen ihrem Versprechen meldeten sich die Täter nach Erhalt des Geldes nicht mehr bei der Familie. Sie brachen jeden Kontakt ab und gaben den Aufenthaltsort ihrer Geisel nicht preis. Für die Angehörigen begann nun ein qualvolles Warten in Ungewissheit: Würde ihr Sohn trotz bezahlten Lösegeldes lebend zurückkehren?

Kampf ums Überleben

Was die Familie zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Hendrik Snoek lag weiterhin angekettet in dem eisigen Brückenpfeiler – und sein Zustand verschlechterte sich stündlich. Ohne Nahrung, mit kaum Wasser und der Kälte ausgesetzt, kämpfte er ums Überleben. Snoek, der ahnte, dass die Entführer ihr Versprechen nicht gehalten hatten, unternahm verzweifelte Versuche, auf sich aufmerksam zu machen. In dem Pfeiler gab es ein kleines Lüftungsloch zur Talseite. Durch diese Öffnung begann Snoek Zettel und Papierfetzen nach draußen zu werfen. Mangels anderer Materialien riss er sogar Streifen von der einzigen Rolle Toilettenpapier, die ihm gelassen worden war, und ließ diese als eine Art improvisierte Fahne aus dem Lüftungsschlitz hängen. Es war ein verzweifeltes Signal – und tatsächlich sollte dieses Lebenszeichen nicht unbemerkt bleiben.

Rettung in letzter Minute

Am Vormittag des 5. November entdeckte ein aufmerksamer Mitarbeiter der Stadt Herborn während einer Routinefahrt entlang der Ambachtalbrücke zufällig die herausragenden Papierstreifen am Pfeiler. Irritiert hielt er an. Was hatte es mit diesen weißen Fetzen an einem Autobahnbrückenpfeiler auf sich? Der Mitarbeiter verständigte umgehend die Polizei. Kurz darauf rückten Einsatzkräfte – darunter ein Spezialeinsatzkommando (SEK) – zur Ambachtalbrücke aus. Die Beamten ahnten noch nicht, ob sie wirklich auf eine Spur des vermissten Millionenerben gestoßen waren, doch die Indizien ließen keinen Zweifel: Hier schrie offenbar jemand in höchster Not um Hilfe.

An der Brücke bot sich den Polizisten ein erschreckendes Bild: Durch einen schmalen Schacht im Pfeiler erblickten sie Hendrik Snoek, der mit einer dicken Kette um den Hals an die Wand gefesselt war. Er war unterkühlt, entkräftet und stand kurz vor dem Kollaps, aber er lebte. Sofort wurde die Rettungsaktion eingeleitet. Die Einsatzkräfte versuchten zunächst, mit ihrem mitgeführten Bolzenschneider die Eisenkette zu durchtrennen, doch das massive Metall widerstand ihren Werkzeugen. Jeder Augenblick zählte, denn Snoek schwebte in akuter Lebensgefahr. Schließlich wurde die Feuerwehr Herborn hinzugezogen, die mit einem besonders starken hydraulischen Bolzenschneider anrückte. Mit vereinten Kräften gelang es den Feuerwehrleuten, die halsfesselnde Kette zu knacken und den jungen Mann nach etwa drei Tagen Gefangenschaft aus seinem Betonkerker zu befreien. Hendrik Snoek war gerettet – nur wenige Stunden, nachdem das Lösegeld bezahlt worden war. Hätte der Zufall nicht in Form des aufmerksamen Entdeckers eingegriffen, wären Snoeks Überlebenschancen in der kalten Nacht wohl rapide gesunken.

Fahndung und juristische Aufarbeitung

Noch während Snoek medizinisch versorgt wurde, lief die Fahndung nach den flüchtigen Entführern auf Hochtouren. Durch intensive Ermittlungsarbeit und die Auswertung erster Spuren gelang es der Polizei innerhalb kurzer Zeit, zwei Tatverdächtige zu identifizieren und festzunehmen. Die Festnahmen brachten jedoch ein weiteres tragisches Ereignis mit sich: Einer der verhafteten Entführer erhängte sich wenige Tage später in der Untersuchungshaft, bevor er vor Gericht gestellt werden konnte. Der zweite Täter musste sich vor dem Landgericht Münster verantworten. In einem aufsehenerregenden Prozess wurde er schließlich wegen erpresserischen Menschenraubs zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt.

Vom Lösegeld blieb der Großteil indes verschwunden. Trotz intensiver Nachforschungen fand man bis Ende 1977 nur etwa 750.000 D-Mark der ursprünglich übergebenen fünf Millionen – der Rest der Summe hatte sich in dunklen Kanälen verloren und konnte den Entführern nicht mehr abgenommen werden. Ob das Geld von Komplizen beiseitegeschafft oder in Verstecken deponiert worden war, blieb ungeklärt. Die Familie Snoek musste also nicht nur das traumatische Erlebnis verarbeiten, sondern auch den finanziellen Verlust großteils hinnehmen.

Folgen für Hendrik Snoek

Hendrik Snoek überlebte die Entführung dank seines eigenen Improvisationstalents und einer glücklichen Fügung – doch die Erfahrung, angekettet und dem Tod nahe in einem Brückenpfeiler zu liegen, hinterließ tiefe Spuren. Umso erstaunlicher ist, wie schnell Snoek versuchte, zur Normalität zurückzukehren. Bereits eine Woche nach seiner Befreiung stand er wieder im Reitsattel: Bei einem Springreitturnier in Wien ging er an den Start und belegte den dritten Platz. Diese schnelle Rückkehr in den Sport wurde in der Öffentlichkeit als Zeichen bemerkenswerter Stärke und Resilienz gewertet. Hendrik Snoek wollte sich offenbar nicht als Opfer definieren lassen, sondern sein Leben und seine Leidenschaft weiterführen.

In den folgenden Jahren engagierte sich Snoek erfolgreich sowohl im Sport als auch im Geschäftsleben. Er übernahm leitende Funktionen im familieneigenen Unternehmen und blieb dem Reitsport als Funktionär und Mäzen eng verbunden. Die Entführung jedoch ist bis heute ein dunkles Kapitel, das untrennbar mit seinem Namen verbunden bleibt. Der Fall Snoek machte deutlich, dass selbst prominente und gut situierte Personen ihres Lebens nicht sicher waren, und er führte zu erhöhter Aufmerksamkeit für Personenschutz wohlhabender Familien.

Rund 45 Jahre nach der Tat erinnert man sich noch immer an diese Entführung, die wie aus einem Kriminalroman anmutet. 2021 widmete der WDR dem Geschehen einen Dokumentarfilm mit dem Titel Entführt im Münsterland, in dem Zeitzeugen und Originalaufnahmen die dramatischen Ereignisse nachzeichnen. Der Entführungsfall Hendrik Snoek bleibt einer der spektakulärsten True-Crime-Fälle der 1970er-Jahre in Deutschland – ein Lehrstück darüber, wie kaltblütig Verbrecher vorgehen können, aber auch wie Zufall, schnelle Hilfe und menschlicher Überlebenswille im entscheidenden Moment über Leben und Tod entscheiden.