
Münster im Jahr 1534: Die Stadt erlebt eine radikal-religiöse Umwälzung. Eine Täuferbewegung übernimmt die Macht und errichtet das sogenannte Täuferreich von Münster (1534–1535). Unter der Führung von Jan Matthys und später Jan van Leiden proklamieren die Täufer Münster zum „Neuen Jerusalem“. Ihr Ziel: eine theokratische Gemeinschaft nach biblischem Vorbild. Getragen von endzeitlicher Stimmung und sozialrevolutionären Ideen (wie der Aufhebung des Privatbesitzes) radikalisiert sich die Herrschaft zusehends. Für die Bürger bedeutet dies gravierende Veränderungen im Alltagsleben. So wird die Erwachsenentaufe zur Pflicht – wer sich weigert, die Pflichttaufe zu empfangen, muss die Stadt verlassen. Zahlreiche altgläubige (katholische) und gemäßigt evangelische Münsteraner verlassen daraufhin fluchtartig die Stadt. Doch viele begeisterte Anhänger strömen neu hinein, vor allem aus Holland und Friesland, um Teil der Täuferrepublik zu werden.
Im Frühjahr 1534 sind zentrale Orte der Stadt fest in Täuferhand. Am Prinzipalmarkt mit dem historischen Rathaus übernimmt der Täufer und Kaufmann Bernhard Knipperdolling das Bürgermeisteramt In den Kirchen Münsters – etwa am Domplatz im katholischen St.-Paulus-Dom – lassen die Täufer alle Altäre und Heiligenbilder zerstören. Die neue Herrschaft duldet keinen Widerspruch: Bereits Mitte März 1534 wird ein Bürger, der öffentlich gegen das Verbrennen städtischer Urkunden protestiert, von Jan Matthys eigenhändig hingerichtet. Die Stadt befindet sich im Ausnahmezustand, denn von außen hat Fürstbischof Franz von Waldeck Münster mit seinen Truppen einschließen lassen. Was als religiöser Aufbruch begann, ist in einen offenen Machtkampf gemündet – innerhalb der belagerten Stadt ebenso wie gegenüber den belagernden Fürstenheeren.
Vor diesem Hintergrund ereignet sich der berüchtigte „Münstersche Fenstersturz“ des Jahres 1534. Dabei handelt es sich um einen dramatischen Vorfall, bei dem ein führender Gegner der Täufer innerhalb der Stadt gewaltsam aus dem Fenster gestürzt und getötet wird. Nachdem Jan van Leiden ab April 1534 die Führung der Täufer übernommen und sich wenig später sogar selbst zum König ausgerufen hat, spitzt sich die Lage in Münster weiter zu. Viele Bürger leiden unter Hunger infolge der andauernden Belagerung; zugleich wird die Täufer-Herrschaft immer autoritärer. Jan van Leiden führt im Sommer 1534 die Vielehe ein und zwingt alle Frauen und Männer, sich in einer “heiligen Ehe” zu verbinden – was faktisch Polygamie für die verbliebenen Männer bedeutet. Diese radikalen Maßnahmen sorgen für Unruhe selbst unter den Täuferanhängern.
Ende Juli 1534 regt sich innerhalb der belagerten Stadt Widerstand gegen die Täuferherrschaft. Eine Gruppe unzufriedener Bürger unter Führung des Kaufmanns Heinrich Mollenhecke versucht, Jan van Leiden und seine Gefolgsleute zu stürzen. Dieser interne Umsturzversuch wird jedoch schnell verraten und von den herrschenden Täufern blutig niedergeschlagen. Insgesamt werden 47 Beteiligte des Komplotts zum Tode verurteilt und hingerichtet. Mollenhecke, als Wortführer dieses Aufstands und damit ein prominenter Gegner der Täufer, erfährt dabei ein besonders grausames Schicksal: Er wird auf dem Prinzipalmarkt vor den Augen der Bevölkerung aus einem Fenster des Rathauses gestürzt und tödlich verletzt. Dieser Fenstersturz – ein Name in Anlehnung an ähnliche Ereignisse wie den Prager Fenstersturz – soll den verbliebenen Bürgern Münsters eine deutliche Warnung sein. Die Täufer demonstrieren damit ihre Kompromisslosigkeit: Jeglicher Widerstand gegen das „Gottesreich“ in Münster wird mit dem Tod bestraft.
Zeitgenössische Berichte schildern den Fenstersturz als abschreckendes Exempel inmitten der bereits von Gewalt geprägten Herrschaft. Der blutige Zwischenfall markiert einen Höhepunkt der innerstädtischen Spannungen. Nach dem Tod Mollenheckes und seiner Mitverschwörer ist die Opposition innerhalb Münsters gebrochen; fortan wagen nur noch wenige, den radikalen Täufern offen entgegenzutreten. Die Stadtgemeinschaft – ohnehin ausgehungert und eingeschüchtert – fügt sich in ihr Schicksal unter Jan van Leidens Regiment.
Der Fenstersturz von 1534 war zwar ein grausames Kapitel, aber nicht das Ende des Dramas. Die Belagerung Münsters durch den Fürstbischof und seine Verbündeten dauert insgesamt 16 Monate. Während dieser Zeit radikalisiert sich die Täuferherrschaft immer weiter und die Lage der Eingeschlossenen wird verzweifelt. Ostern 1534 war Jan Matthys – der erste Prophet der Bewegung – bei einem Ausfall vor den Toren der Stadt bereits getötet worden. Sein Nachfolger Jan van Leiden steuert Münster nun mit absolutem Anspruch. Trotz fanatischem Durchhaltewillen und gelegentlichen Ausfällen der Verteidiger misslingt es den Täufern letztlich, dem immer enger werdenden Belagerungsring zu entkommen.
Im Juni 1535 kommt es zum unaufhaltsamen Zusammenbruch des Täuferreichs. Durch Verrat können die bischöflichen Truppen schließlich in die Stadt eindringen. Es folgt ein grauenerregendes Blutbad: Hunderte Menschen sterben bei der Eroberung Münsters. Jan van Leiden selbst und die übrigen Anführer der Täufer werden gefangengenommen. Nach monatelanger Folter richtet der siegreiche Bischof Franz von Waldeck im Januar 1536 die drei prominentesten Rädelsführer – Jan van Leiden, Bernd Knipperdolling und Bernd Krechting – auf dem Prinzipalmarkt hin. Zur Abschreckung lässt er ihre Leichen in eisernen Körben (den berüchtigten „Täuferkäfigen“) am Turm der Lamberti-Kirche aufhängen. Diese Körbe sind bis heute am Lambertiturm in Münsters Altstadt zu sehen und erinnern mahnend an die düstere Episode der Stadtgeschichte im 16. Jahrhundert.
Der Münstersche Fenstersturz von 1534 steht sinnbildlich für die Brutalität dieser Zeit. In der Geschichte Münsters markiert er den Moment, in dem der religiöse Eifer in blinde Gewalt umschlug. Eingebettet in den blutigen Machtkampf des Täuferreichs, zeigt dieses Ereignis, wie schnell sich eine Stadtgemeinschaft in Fanatismus und Chaos stürzen konnte. Gleichzeitig ist Münster bis heute geprägt von den Spuren jener Ereignisse – ob am Prinzipalmarkt, wo einst das Drama um Leben und Tod stattfand, oder an der Lambertikirche, an der die Zeugnisse des Schreckens noch hängen. Der Fenstersturz von 1534 bleibt ein eindringliches Beispiel dafür, wie aus religiösem Idealismus tödlicher Ernst wurde, und er ist Teil des kollektiven Gedächtnisses der Stadt Münster über diese aufwühlende Phase der Reformation.