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Gebietsreform 1975 Münster: Als elf Gemeinden ihre Eigenständigkeit verloren

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Foto: Nicole N.

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Eine eisige Neujahrsnacht läutete 1975 in Münster eine große Veränderung ein. Die Gebietsreform 1975 Münster trat in Kraft und mit einem Schlag veränderten sich Landkarten und Ortsschilder. Was tags zuvor eigenständige Dörfer und Gemeinden waren, wurde nun offiziell Teil der Stadt Münster. Für viele Bewohner der umliegenden Orte fühlte es sich an, als würden sie über Nacht ein Stück Heimat verlieren. Die kommunale Neugliederung in NRW hatte Münster viermal größer gemacht – doch für die Menschen in Hiltrup, Wolbeck oder Roxel bedeutete sie vor allem den Verlust der vertrauten Eigenständigkeit ihrer Orte.

Gebietsreform 1975 Münster – Hintergrund und Ablauf

Die kommunale Neugliederung NRW Mitte der 1970er war ein landesweites Reformprojekt. Ziel des Landes war es, Verwaltung effizienter zu gestalten und größere kommunale Einheiten zu schaffen. In Münster bedeutete dies die Auflösung des Landkreises Münster und die Eingemeindung der umliegenden Gemeinden in die kreisfreie Stadt. Bereits 1969 hatte der Stadtrat Münster beschlossen, diese Eingemeindungen anzustreben. Es folgten jahrelange Verhandlungen, Gutachten und letztlich das „Münster/Hamm-Gesetz“ vom Juli 1974, das den neuen Grenzzuschnitt festlegte. Zum 1. Januar 1975 wurde der Plan Realität.

Schlagartig wuchs das Stadtgebiet Münsters auf mehr als das Vierfache an. Aus etwa 75 km² wurden rund 300 km² – Dreiviertel des heutigen Stadtgebiets gehen auf die Reform zurück. Ebenso sprunghaft stieg die Bevölkerungszahl: Über 60.000 Menschen wurden zu Neu-Münsteranern. Die Einwohnerzahl kletterte von ca. 200.000 auf etwa 263.000 Bürger – ein Zuwachs von rund 31 %. Münster avancierte flächenmäßig zur zweitgrößten Stadt in Nordrhein-Westfalen. Aus vormals selbstverwalteten Gemeinden wurden nun Stadtteile Münsters.

Welche Orte waren betroffen? Insgesamt elf heutige Außenstadtteile verloren 1975 ihre politische Selbstständigkeit und wurden Münster zugeordnet. Dazu gehörten:

  • Hiltrup (damals ein eigener Ort mit städtischem Charakter)

  • Amelsbüren (das dörfliche Umland südlich von Hiltrup)

  • Albachten (ein kleines Dorf im Westen)

  • Roxel (ebenfalls westlich gelegen, mit ländlichem Charme)

  • Nienberge (ein Dorf im Nordwesten)

  • Handorf (im Osten, bekannt für seine Bauernschaften)

  • Wolbeck (ein historischer Wigbold – Marktflecken – im Südosten)

  • Angelmodde (benachbart zu Wolbeck, mit eigener Kirchspiel-Historie)

  • Sankt Mauritz (eine Gemeinde im Osten, inklusive Bauerschaften wie Gelmer und Sudmühle)

  • Sprakel (eine Bauernschaft im Norden, bis dahin Teil von St. Mauritz)

  • Gelmer (ländliche Bauerschaft an der Werse, gehörte zuvor zu St. Mauritz)

Diese vormals eigenständigen Orte – von kleineren Bauerschaften bis zu größeren Gemeinden – wurden nun Stadtteile von Münster. Ihre Rathäuser und Bürgermeisterämter verloren ihre Funktion, Ortsschilder wurden ausgetauscht und das Auto-Kennzeichen wechselte für viele von „MS“ auf einmal zu „MS“ – denn alle waren nun Münsteraner.

Protest und Widerstand in den eingemeindeten Stadtteilen

Die Gebietsreform 1975 in Münster war administrativ beschlossen, doch vor Ort schlug ihr zunächst Ablehnung entgegen. Widerstand gegen die Eingemeindung regte sich in fast allen betroffenen Orten – teils lautstark und emotional. Schon Jahre vor dem Stichtag machten Bürgerinitiativen und Gemeinderäte mobil: „Hände weg von Hiltrup!“ prangte es sinnbildlich auf Versammlungen. In Wolbeck lehnten sämtliche Parteien geschlossen eine Eingemeindung ab. Hiltrup, Amelsbüren und Rinkerode schmiedeten eilig Pläne, sich zu einer Großgemeinde zusammenzuschließen, um dem Zugriff Münsters zu entgehen. Doch alle diese Aktionen kamen zu spät – oder fanden beim Land kein Gehör.

Die Wortwahl jener Zeit zeigt, wie sehr die Menschen um ihre Identität bangten. Ein Gemeindevertreter aus Roxel wetterte, „die Stadt Münster will dort ernten, wo sie niemals gesät hat.“ Man fühlte sich als begehrte Beute: Die wachsende Großstadt schien sich einfach der florierenden Umlandgemeinden zu bedienen, ohne deren Aufbauleistung erbracht zu haben. Roxels Bürgermeister Anton Wulfert kündigte trotzig an, er werde sich „mit Haut und Haaren“ und „bis zum letzten Atemzuge“ gegen die Eingemeindung wehren. Ebenso drastisch äußerte sich Hiltrups Bürgermeister Franz Tölle – noch ein Jahrzehnt nach Vollzug der Reform schimpfte er die kommunale Neuordnung einen „riesigen Misserfolg“, den man am liebsten rückgängig machen solle. Solche Aussagen machten deutlich, wie schmerzlich der Verlust der eigenen Gemeinde empfunden wurde.

Auch viele Bürger außerhalb der politischen Ämter gingen auf die Barrikaden. In den betroffenen Orten entstanden Bürgerinitiativen für den Erhalt der Selbstständigkeit. Es gab Bürgerversammlungen, Resolutionen und Petitionen ans Landesparlament. Symbolische Aktionen wie Traueranzeigen für die „Beerdigung“ der eigenen Gemeinde oder Protestzüge mit historischen Fahnen verdeutlichten den Unmut. Für die stark heimatverbundene Bevölkerung war diese Reform ein tiefer Einschnitt. Man fürchtete, in der großen Stadt würden die eigenen Anliegen untergehen, die Steuern steigen und der dörfliche Charakter verloren gehen.

Die Landesregierung und die Stadt Münster versuchten indes, die Wogen zu glätten. Der damalige SPD-Fraktionschef im Stadtrat, Josef Prochaska, versprach 1969 beschwichtigend: „Wir wollen keineswegs räubern.“ Aus Sicht der Stadt sollte die Eingemeindung Vorteile bringen – bessere Infrastruktur, Schulen, Verkehrsverbindungen und neue Baugebiete für alle. Doch in den Dörfern verhallten solche Argumente zunächst ungehört. Zu tief saß die Angst, von der großen Stadt „geschluckt“ zu werden.

Von der Eingemeindung zur neuen Identität

Trotz aller Proteste ließ sich die Eingemeindung nach Münster letztlich nicht aufhalten. Am 1. Januar 1975 änderten sich über Nacht die Verwaltungszugehörigkeiten. Was folgte, war ein langsamer Prozess des Zusammenwachsens – mit Höhen und Tiefen. Zunächst blieb die Stimmung in manchen Ortsteilen frostig. Viele Eingemeindete fühlten sich als Bürger zweiter Klasse im fernen Rathaus der Stadt Münster. Es gab handfeste Enttäuschungen: So hatte Hiltrup kurz vor der Eingemeindung hastig den Bau einer neuen Mehrzweckhalle begonnen, in der Hoffnung, Münster würde das Projekt weiterführen. Doch kaum war Hiltrup Stadtteil, stoppte die Stadt den Bau vorerst – ein Schock für die Hiltruper, der das Vertrauen nicht gerade stärkte. Ähnlich erging es anderen Orten, deren eigene Pläne nun von der zentralen Stadtverwaltung überprüft oder geändert wurden.

Dennoch entstand allmählich auch ein Bewusstsein, Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein. In den Jahren nach 1975 wurden Bezirksvertretungen eingerichtet, damit die ehemaligen Gemeinden vor Ort eine politische Stimme behielten. Vertreter aus Albachten, Wolbeck oder Handorf saßen nun im Stadtrat oder den Bezirksgremien und kämpften dort für ihre Stadtteile. Dies half, Schritt für Schritt die Gräben zu verringern.

Gleichzeitig pflegten die eingemeindeten Orte bewusst ihre lokale Identität weiter – oft sogar stärker als zuvor. Fast jede Gemeinde veröffentlichte zum Abschied eine eigene Ortschronik oder Festschrift, um die Geschichte und Eigenarten des Ortes für zukünftige Generationen festzuhalten. Heimatvereine gewannen Zulauf, lokale Traditionen wurden hochgehalten. Wolbeck zum Beispiel feierte weiterhin seinen einzigartigen Ziegenbocksmontag-Karnevalsumzug, nun mit dem Selbstbewusstsein eines jahrhundertealten Wigbolds innerhalb Münsters. Hiltrup behielt nicht nur seinen Namen als Stadtteil, sondern durfte sogar einem gesamten Stadtbezirk den Namen geben – ein Symbol dafür, dass seine Identität anerkannt wurde. Während andere neue Bezirke nüchterne Bezeichnungen wie Münster-West oder Münster-Südost erhielten, hieß der Bezirk im Süden schlicht Münster-Hiltrup, womit der Name und Stolz der einst eigenständigen Stadt weiterlebte.

Heute – ein halbes Jahrhundert später – sind die früheren Dörfer und Gemeinden längst zu unverzichtbaren Stadtteilen Münsters geworden. Aus der anfangs erzwungenen Verbindung ist eine Gemeinschaft in Vielfalt gewachsen. Jeder Stadtteil bringt seine eigene Geschichte, Kultur und Mentalität mit, was Münster insgesamt reicher und lebendiger macht. Doch erinnern sich besonders ältere Einwohner noch gut an die Zeit vor der Gebietsreform 1975. In manch einem Gespräch hört man bis heute Sätze wie: „Wir in Nienberge haben uns damals schwergetan, Teil von Münster zu werden.“ Dieses anfängliche Fremdeln ist jedoch Teil der Stadtgeschichte geworden – einer Geschichte, in der aus Konflikten schließlich Zusammenhalt entstand.

Was bleibt, ist die Erkenntnis: Die Gebietsreform 1975 in Münster war mehr als ein Verwaltungsakt. Sie war ein emotionales Erlebnis für die Menschen in den eingemeindeten Orten – mit Trauer um das Verlorene, aber auch mit der Chance auf einen Neuanfang in einer größeren Gemeinschaft. Aus ehemals selbstständigen Gemeinden wurden stolze Stadtteile, die ihre Wurzeln nicht vergessen. So erzählt Münster bis heute die Geschichten von Hiltrup, Wolbeck, Handorf und all den anderen – als Erzählungen von Verlust und Wandel, aber auch von Heimat, die im Herzen weiterlebt.

Literaturverzeichnis

  • Stadt Münster (Amt für Kommunikation): Widerstand „bis zum letzten Atemzuge“: Die Eingemeindung von 1975. Pressemeldung vom 16.11.2009. (Historische Rückschau mit Zeitzeugenberichten zur Gebietsreform in Münster)

  • Stadt Münster: 50 Jahre Gebietsreform – Als Münster über Nacht um das Vierfache wuchs. Online-Artikel vom 28.03.2025. (Jubiläumsbeitrag der Stadt mit Fakten zu Umfang und Folgen der Reform)

  • Hiltrup.eu (Lokales Blog-Archiv): Kommunale Neugliederung 1975. (Details zur Eingemeindung Hiltrups, lokale Perspektive und Folgen für den Stadtteil)

  • Institut für vergleichende Städtegeschichte, Uni Münster: Gemeinde- und Stadtentwicklung Münster. (Daten und Hintergründe zu den Eingemeindungen 1875, 1903 und 1975 im Raum Münster)

  • Körber-Stiftung Geschichtswettbewerb (1999): „Hände weg von Hiltrup!“ – Die Eingemeindung Hiltrups 1975. (Schülerprojekt mit Interviews, beleuchtet Protestkultur und Identitätsfragen in Hiltrup)

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