
Die Familie Walder stammt aus Kalkstein, einem abgelegenen Bergdorf in Osttirol, das auf über 1.600 Metern Höhe liegt. Hier, in der rauen Natur der Alpen, lebten die Menschen jahrhundertelang von Landwirtschaft und Holzwirtschaft. Doch die kargen Bedingungen zwangen viele Bauern, sich auf andere Weise zu ernähren – das Wildern wurde für manche Familien zur Lebensgrundlage.
Die Walder-Brüder wuchsen in einer Welt auf, in der die Natur die Gesetze diktierte und in der die Grenze zwischen Recht und Unrecht oft unsichtbar war. Ihr Vater war ein angesehener Bergbauer, der es mit harter Arbeit und kluger Planung zu Wohlstand gebracht hatte. Die Familie war im gesamten deutschsprachigen Raum für ihre Stärke und Arbeitskraft bekannt, insbesondere in der Holzwirtschaft. Ihre Männer galten als unerschütterlich, kräftig und entschlossen.
Pius Walder, das jüngste von zwölf Kindern, war ein lebensfroher und charismatischer Mann, der in seinem Umfeld geschätzt wurde. Er galt als freundlich, humorvoll und energisch. Doch wie viele andere in seiner Familie sah er das Jagdrecht der Förster und Aufsichtsjäger als ungerecht an. Wildern war für ihn mehr als nur ein Überlebensmittel – es war eine Form des Widerstands gegen die Vorherrschaft der Jagdgesellschaften, die in seinen Augen das Wild für sich beanspruchten, während die einfachen Leute leer ausgingen.
Am Abend des 8. September 1982 kam es im Villgratental zur Tragödie. Pius Walder war unterwegs, als er von den Jägern Johann Schett und Josef Schaller entdeckt wurde. Was genau geschah, ist bis heute umstritten. Die Jäger behaupteten später, sie hätten nicht gewusst, wen sie da verfolgten. Die Familie Walder hingegen war überzeugt, dass es sich um eine gezielte Jagd auf ihren Bruder handelte.
Acht Schüsse wurden abgefeuert. Der letzte traf Pius Walder in den Hinterkopf. Er stürzte den Hang hinunter und war sofort tot.
Die Nachricht verbreitete sich rasch, und das gesamte Villgratental war erschüttert. Viele hielten den Tod für einen Unfall, andere für eine kaltblütige Hinrichtung. Die Walder-Brüder, allen voran Hermann Walder, waren überzeugt, dass ihr Bruder gezielt ermordet worden war.
Die Justiz sah den Fall anders. Im darauffolgenden Prozess im Februar 1983 wurde Johann Schett wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Nach eineinhalb Jahren kam er vorzeitig frei. Für die Familie Walder war dieses Urteil eine Farce – sie glaubten, dass die Jäger von einem Rechtssystem geschützt wurden, das ihre Taten nicht angemessen bestrafte.
Die Walder-Brüder schworen am Grab ihres Bruders, dass sie sich mit diesem Urteil nicht abfinden würden. Die Wut und der Schmerz über das Geschehene verwandelten sich in einen jahrzehntelangen Kampf gegen das, was sie als Ungerechtigkeit empfanden.
Nach dem Prozess brach im Villgratental ein offener Konflikt aus. Das Dorf spaltete sich in zwei Lager: Die einen unterstützten die Jäger, die anderen stellten sich auf die Seite der Walder-Familie. Der Streit eskalierte in den folgenden Jahren immer weiter.
Es gab Bombendrohungen, Morddrohungen und zahlreiche Ehrenbeleidigungsklagen. Ein Sprengstoffanschlag wurde auf einen der Walder-Brüder verübt. In den engen Straßen des Dorfes herrschte eine angespannte Atmosphäre – viele sprachen nicht mehr miteinander, Freundschaften zerbrachen.
Selbst die Kirche geriet in den Strudel der Fehde. Als der örtliche Pfarrer das Sterbebild von Pius Walder von der Kirchentür entfernte, kam es zu einer hitzigen Auseinandersetzung mit Hermann Walder. Dieser Vorfall führte später sogar zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung.
Kein Angehöriger kämpfte so unerbittlich für das Andenken an Pius Walder wie sein Bruder Hermann. Für ihn war die Justiz ein korruptes System, das die Interessen der Mächtigen schützte, während einfache Leute benachteiligt wurden.
Sein Protest nahm immer drastischere Formen an. Er bemalte sein Auto mit Parolen, die sich gegen das Gerichtsurteil richteten, und trug Transparente mit aufsehenerregenden Botschaften. Er weigerte sich, die Sache ruhen zu lassen, und suchte immer wieder die Öffentlichkeit.
Sein Engagement führte dazu, dass die Geschichte von Pius Walder über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt wurde. Dokumentationen, Reportagen und Bücher befassten sich mit dem Fall, und das Bild des getöteten Wilderers wurde für viele zum Symbol eines jahrhundertealten Konflikts zwischen Jägern und Bauern.
Im Jahr 2012 starb Johann Schett. Doch selbst in seinem Tod konnte der einstige Jäger der Vergangenheit nicht entkommen. Als sein Begräbnis stattfand, war Hermann Walder ebenfalls anwesend – nicht als Trauergast, sondern als Demonstrant.
Mit einem großen Transparent, auf dem er Schett als Mörder bezeichnete, störte er die Trauerfeier. Seine lauten Rufe durchbrachen die Stille des Friedhofs, während die anwesenden Gäste fassungslos zusahen. Die Polizei musste schließlich eingreifen und Walder aus dem Nahbereich entfernen.
Er sah in diesem Begräbnis keinen Moment der Versöhnung, sondern eine Gelegenheit, erneut auf die Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen, die seiner Familie widerfahren war. Für ihn war der Tod von Johann Schett keine Genugtuung, sondern ein weiterer Beweis dafür, dass das Schicksal selbst für Gerechtigkeit gesorgt hatte.
Der Fall Pius Walder gehört zu den bekanntesten Kriminalfällen Tirols und hat das Villgratental nachhaltig geprägt. Noch immer ist die Geschichte nicht vergessen, noch immer gibt es unterschiedliche Meinungen über das, was damals geschah. Für viele ist Pius Walder ein Märtyrer, ein Mann, der für seine Überzeugungen starb. Für andere war er ein Gesetzesbrecher, der die Konsequenzen seines Handelns trug. Doch egal, wie man den Fall betrachtet, eines steht fest: Die Spuren dieses tödlichen Schusses sind bis heute nicht verblasst.