
Münster. Es ist Donnerstagnachmittag, 9. Oktober 2025. Die Neubrückenstraße steht still. Mensch reiht sich an Mensch, Handys zücken, Gespräche summen durcheinander. Vor der kleinen Buchhandlung „Schatzinsel“, keine 80 Quadratmeter groß, wartet Münster auf einen seltenen Gast: Angela Merkel.
Unter den vielen Erwachsenen stehen drei Jungen – zwei Brüder und ein befreundeter Mitschüler. Ihre Mutter hat bei der Buchhandlung nachgefragt, ob Kinder ohne Ticket rein dürfen. „Ja, das sei so, aber sie werde das nochmal mit dem Sicherheitsdienst absprechen“, habe die Buchhändlerin am Telefon gesagt. „Darauf habe ich vertraut“, erzählt sie später.
Als die Familie schließlich in die Innenstadt kommt, ist Münster verstopft. Gesperrte Straßen, Umleitungen, kaum Parkplätze. „Ich hab die Kinder an der Ecke rausgelassen – sie sollten sich hinten anstellen. Ich suchte nur noch einen Parkplatz.“ Als sie zurückkommt, ist der Andrang noch größer, aber der Moment rückt näher, an dem ihre Söhne der Altkanzlerin begegnen werden.
Kurz nach 16 Uhr schlägt gegenüber die Apostelkirche. Pünktlich, wie man sie kennt, betritt Angela Merkel den Verkaufsraum. Kein großes Aufsehen, kein Blitzlichtgewitter – nur ein schlichtes, blaues Kostüm, farblich passend zu Tischdecke und Buchumschlag.
Dass sie persönlich signiert, hatten viele gar nicht erwartet. Auf den Flyern stand, es werde keine Fotos und keine persönlichen Widmungen geben. Doch Merkel winkt den ersten Besucherinnen und Besuchern freundlich zu und fragt: „Wollen Sie ein Foto?“ Eine Mitarbeiterin greift zum Handy, klick, nächster bitte.
Für die Kinder ist der Moment magisch: vier Bücher liegen vor ihr, die sie nacheinander unterschreibt. „Und wer trägt die ganzen Bücher?“, fragt Merkel lächelnd. „Ich“, sagt Noah. „Und lest ihr sie auch?“ – kurze Pause. Einer nickt, der andere überlegt. „Ich guck mal, ob es mich interessiert.“ Merkel lacht.
Draußen sammeln sich inzwischen Reporter und Schaulustige. Eine Journalistin vom Radio fragt die Kinder nach ihrem Eindruck.
„Woher kennt ihr denn Angela Merkel?“ –
„Aus dem Fernsehen“, sagt einer.
Dann mischt sich der Jüngste ein: „Von meiner Mutter! Die arbeitet bei den Grünen.“
Die Reporterin schaut überrascht, lacht – und notiert. Es ist einer dieser Momente, in denen Politik plötzlich ganz kindlich wird: parteilos, ehrlich, frei von Etiketten.
Nur wenige Stunden später, am Abend desselben Tages, wechselt Angela Merkel die Bühne – von der kleinen Buchhandlung in den großen Congress Saal der Halle Münsterland. Rund 1.500 Besucherinnen und Besucher sind gekommen, die Veranstaltung war seit Wochen ausverkauft.
Auf der Bühne sitzt sie ruhig, sachlich, fast professoral. Sie liest aus ihrer Autobiografie „Freiheit – Erinnerungen 1954–2021“, die sie gemeinsam mit ihrer langjährigen Beraterin Beate Baumann geschrieben hat.
Merkel spricht über ihre Kindheit in der DDR, den Weg in die Politik, die Wiedervereinigung, die Flüchtlingskrise 2015 und über Freiheit – als persönliches, aber auch politisches Prinzip.
Besonders aufmerksam wird es, als sie über die Flüchtlingskrise spricht. Ihr berühmter Satz „Wir schaffen das“ ist längst politisches Zitatgut – doch in Münster wirkt er anders. Nicht als Parole, sondern als Rückblick, als Versuch, Verantwortung und Empathie zu verbinden.
Sie berichtet von Begegnungen, Entscheidungen, und von den Grenzen politischer Macht. Zugleich wirkt sie gelöst, freier als früher. Ohne Amtsdruck, aber mit Gewicht in den Worten.
Nach 90 Minuten steht sie auf, lächelt, faltet die Hände – diesmal ohne Raute. Der Applaus dauert minutenlang.
Ihr Buch ist längst ein Bestseller: Schon in der ersten Woche nach Erscheinen im November 2024 wurden über 200.000 Exemplare verkauft. Doch in Münster zeigt sich: Es geht nicht nur um Verkaufszahlen, sondern um Begegnung.
Zwischen Kinderstimmen, Straßensperren und Selfies wurde spürbar, was der Titel meint: Freiheit – die, sich Zeit zu nehmen, zuzuhören, und mit Humor zu reagieren.