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Bielefelder Klinikskandal: Der Fall Philipp G.

Klinik Bethel
Klinkum Bethel, via Wikimedia Commons

Im Juli 2019 begab sich Carina S., eine junge Mutter, wegen wiederholter Ohnmachtsanfälle in das Evangelische Klinikum Bethel in Bielefeld. Sie wurde in die Neurologie aufgenommen und fühlte sich zunächst in Sicherheit. Doch in der Nacht betrat ein Assistenzarzt ihr Zimmer mit der Behauptung, er müsse ihr einen neuen Zugang legen. Kurz nach der Injektion verlor sie das Bewusstsein. Gegen 3 Uhr morgens wachte sie mit starken Schmerzen, Schüttelfrost und Gliederschmerzen auf. Neben ihrem Bett entdeckte sie eine Medikamentenflasche mit der Aufschrift „Propofol“ – ein starkes Narkosemittel, das das Bewusstsein und das Gedächtnis ausschalten kann. Trotz ihrer Meldung an das Pflegepersonal wurde sie nicht über mögliche Unregelmäßigkeiten informiert.

Nur wenige Wochen später, im August 2019, wurde eine weitere Patientin, Nicole T., Opfer desselben Arztes. Auch sie wurde in der Klinik betäubt und sexuell missbraucht. Diesmal dokumentierte der Täter seine Tat auf Video. Doch anstatt eine umfassende Untersuchung einzuleiten oder Verdachtsmomente an die Behörden zu melden, entließ die Klinik Nicole T. ohne weitere Maßnahmen. Der Arzt konnte weiterhin unbehelligt seinen Dienst ausüben.

Philipp G.: Ein Täter mit System

Der Assistenzarzt Philipp G. nutzte seine medizinische Autorität und sein Wissen um Narkosemittel gezielt aus, um Patientinnen wehrlos zu machen. Er hatte sich Zugang zu Betäubungsmitteln wie Propofol verschafft und wusste genau, wie er sie einsetzen musste, um seine Opfer vollständig zu kontrollieren. Die Ermittler fanden später eine Liste mit 80 Namen, die mutmaßlich weitere Opfer des Täters waren. Zudem entdeckten sie auf Festplatten zahlreiche Videoaufnahmen, die seine systematischen Übergriffe dokumentierten.

Trotz dieser erschreckenden Vorgehensweise konnte G. über Monate hinweg unbehelligt weiterarbeiten. Hinweise von Pflegepersonal und Patientinnen auf sein verdächtiges Verhalten wurden nicht ernst genommen oder ignoriert. Weder das Management der Klinik noch seine Vorgesetzten ergriffen Maßnahmen, um sein Handeln zu hinterfragen oder zu stoppen.

Die unterlassene Reaktion der Klinikleitung

Bereits im Sommer 2019 hatten mehrere Patientinnen Auffälligkeiten bemerkt und dem Pflegepersonal oder der Klinikleitung gemeldet. Doch keine internen Untersuchungen wurden eingeleitet, keine Maßnahmen ergriffen, um den Arzt zu überprüfen oder ihn zumindest unter Beobachtung zu stellen. Erst im Januar 2020, nachdem sich weitere Beschwerden häuften, erhielt Philipp G. eine interne Anweisung, keine nicht-indizierten Zugänge mehr zu legen und auf die Verwendung von Propofol zu verzichten. Doch anstatt ihn zu suspendieren, durfte er weiterarbeiten.

Ermittlungen kommen zu spät

Im April 2020, sieben Monate nach der ersten Anzeige, durchsuchte die Polizei schließlich die Wohnung von Philipp G. Die Beamten fanden große Mengen an Betäubungsmitteln sowie rund 80 Videos, die seine Taten dokumentierten. Der Assistenzarzt wurde daraufhin festgenommen. Wenige Tage später beging er in der Untersuchungshaft Suizid. Damit endeten die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihn abrupt, doch die juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung des Falls begann erst.

Ein Skandal, der bis in die Justiz reicht

Lange Zeit wurden viele der betroffenen Frauen nicht über die Ermittlungen informiert. Erst durch investigative Berichterstattung erfuhren einige, dass sie möglicherweise Opfer von Sexualstraftaten geworden waren. Dies löste nicht nur Wut und Entsetzen bei den Betroffenen aus, sondern auch eine breite Debatte über die Verantwortung der Justiz und die Klinikleitung.

Im Jahr 2021 übernahm schließlich die Staatsanwaltschaft Duisburg die Ermittlungen. Dabei rückte die Frage in den Fokus, ob Vorgesetzte im Klinikum Bethel durch Untätigkeit eine Beihilfe zur Vergewaltigung durch Unterlassen geleistet hatten. Die Klinik geriet zunehmend in die Kritik, nicht frühzeitiger gehandelt und somit weitere Taten ermöglicht zu haben.

Opfer kämpfen um Anerkennung

Für viele Betroffene war der Kampf um Anerkennung ihrer Opferrolle eine zusätzliche Belastung. Frauen, deren Missbrauch nicht auf den sichergestellten Videos dokumentiert war, wurden von den Behörden zunächst nicht als offizielle Opfer geführt. Dadurch hatten sie keinen Anspruch auf Entschädigungszahlungen oder psychologische Unterstützung. Während das Klinikum Bethel hohe Entschädigungen an jene zahlte, deren Missbrauch eindeutig belegt war, mussten andere um finanzielle Hilfen kämpfen. Viele fühlten sich als Opfer zweiter Klasse behandelt.

Politische und rechtliche Folgen

Im Jahr 2023 wurde der Fall auch auf politischer Ebene diskutiert. Im Landtag NRW wurden Forderungen nach einer besseren Opferentschädigung laut. Zudem sollten Krankenhäuser strengere Meldepflichten erhalten, wenn ein Verdacht auf Missbrauch durch medizinisches Personal besteht. Die Klinik selbst führte interne Reformen durch, darunter das Vier-Augen-Prinzip für die Verabreichung von Betäubungsmitteln und ein anonymes Hinweisgebersystem für Mitarbeitende und Patienten.

2024: Juristischer Abschluss ohne Anklage

Im Mai 2024 erklärte das Justizministerium NRW, dass die Ermittlungen keine strafrechtlichen Beweise für ein Fehlverhalten der Klinikleitung erbracht hätten. Weder der Chefarzt noch andere Vorgesetzte wurden angeklagt, da nicht nachgewiesen werden konnte, dass sie konkrete Kenntnisse über die Verbrechen hatten oder diese billigend in Kauf nahmen. Somit blieb Philipp G. der alleinige Täter, doch ein Gerichtsprozess gegen ihn fand aufgrund seines Suizids nie statt.

Trotz der juristischen Einstellung bleibt der Skandal ein Mahnmal für strukturelles Versagen im Gesundheitswesen. Der Fall verdeutlicht, wie ein einzelner Täter über Monate hinweg ungehindert agieren konnte – und wie schwer es für Opfer ist, Gerechtigkeit zu erfahren. Trotz neuer Sicherheitsmaßnahmen bleibt die zentrale Frage unbeantwortet: Warum wurde nicht früher gehandelt?