
Er war Prediger, Ehemann – und angeblich ein Voodoo-Priester. Fünf Menschen in seinem Umfeld starben unter mysteriösen Umständen. Immer war Reverend Willie Maxwell in der Nähe. Immer gab es Lebensversicherungen. Immer wurde er reicher. Bis jemand in der Kirche zur Waffe griff – und ihn mitten während einer Beerdigung erschoss.
Es war ein brütend heißer Samstag in Alexander City, Alabama, als sich über 300 Menschen im einzigen Bestattungsinstitut der Stadt versammelten. Sie waren gekommen, um Abschied zu nehmen von Shirley Ann Ellington, einem 16-jährigen Mädchen mit offenen Augen, einer zerschmetterten Stirn und einer verstörend stillen Präsenz. Der Sarg war offen – vielleicht, um der Gemeinde zu zeigen, was geschehen war. Vielleicht, um Schuld zu markieren.
Neben dem Sarg saß ein Mann im dunklen Anzug mit glänzenden Schuhen und einem unbewegten Gesicht: Reverend Willie Maxwell – Shirley Anns Stiefvater. Sein Ruf eilte ihm voraus. Er war charmant, gottesfürchtig – und von einer Serie unerklärter Todesfälle umgeben, deren Opfer allesamt zu seiner Familie gehörten. Als dann ein Mann aufstand, eine Pistole zog und Maxwell drei Kugeln ins Gesicht jagte, flohen die Gäste panisch. Doch keiner weinte um den toten Prediger.
Willie Maxwell wirkte wie aus einer Werbeanzeige entsprungen. Groß, gepflegt, mit einer Stimme, die jedes Gebet zur Melodie machte. Er wuchs in der kleinen Gemeinde Kellyton auf, im ländlichen Alabama – einem Ort, der selbst im Jahr 1970 noch geprägt war von Armut, Rassentrennung und Schweigen.
Maxwell, der sechste von neun Kindern, verließ die Schule früh, diente im Zweiten Weltkrieg als Flugzeugmechaniker und kehrte als selbstbewusster junger Mann zurück. Er arbeitete hart – im Wald, in der Kirche, auf der Kanzel. Doch überall, wo er auftauchte, wirkte er wie ein Mann, der nicht zu diesem Leben gehörte. Immer sauber. Immer in Maßanzügen. Immer ohne einen Fleck Staub auf der Kleidung. Manche munkelten schon damals, der Teufel persönlich müsse seine Wäsche machen.
Seine wahre Gabe jedoch war nicht nur sein Auftreten, sondern seine Fähigkeit, Vertrauen zu wecken. In der Kanzel wurde Maxwell zum Wortkünstler. Seine Predigten waren blumig, seine Gebete leidenschaftlich. Gemeinden baten ihn, sonntags zu sprechen. Doch bald wurde klar: Wo Maxwell predigte, breitete sich nicht nur Gottes Wort aus – sondern auch das Grauen.
Seine erste Ehefrau, Mary Lou Edwards, war eine stille Frau. Gläubig, loyal, traditionsbewusst. Sie glaubte an Ehe als heiligen Bund – auch, als sie mit ansehen musste, wie ihr Mann zunehmend verschwand. Maxwell arbeitete nicht nur als Prediger, sondern auch im Holzgeschäft, reiste viel, ließ sich mit anderen Frauen ein. Im Januar 1970 legitimierte er ein uneheliches Kind – ein Skandal in der kleinen Stadt.
Am 3. August desselben Jahres wurde Mary Lou tot in ihrem Auto aufgefunden. Ihr Gesicht war entstellt, das Auto verschlossen, aber völlig unbeschädigt. Ein Hammer lag auf dem Rücksitz. Die Gerichtsmedizin stellte fest: Der Tod war brutal – aber offiziell blieb er ein „Unfall“. Maxwell hatte kurz zuvor eine Lebensversicherung auf Mary Lou abgeschlossen. 115.000 Dollar. Das Geld wurde ausgezahlt. Ein Täter? Nicht zu ermitteln.
Nur ein Jahr später heiratete Maxwell erneut. Seine neue Frau: Dorcas Anderson – die Nachbarin, die ihn im Fall Mary Lou ein Alibi verschafft hatte. Ihr eigener Ehemann war wenige Monate zuvor überraschend im Krankenhaus gestorben. Auch dieser Todesfall: ungeklärt, ohne Autopsie.
Dorcas lebte nur zwei Jahre. Auch sie wurde tot in einem Auto gefunden, auch hier fehlten Anzeichen eines Unfalls. Der einzige Hinweis: ein gebrochenes Zungenbein – oft ein Zeichen für Strangulation. Doch die offizielle Todesursache lautete „akute Atemnot“. Maxwell, mittlerweile routiniert im Umgang mit Versicherern, hatte 17 Lebensversicherungen auf seine Frau abgeschlossen. Drei davon zahlten aus – insgesamt 116.000 Dollar.
Nun war es nicht mehr zu übersehen: Ein Muster zeichnete sich ab. Als nächstes starb Maxwells Bruder – angeblich an Alkohol, obwohl der Mann nie als starker Trinker bekannt gewesen war. Dann starb sein Neffe James Hicks – erneut ohne erkennbare Todesursache. Wieder waren Versicherungen abgeschlossen worden. Und wieder floss Geld an den Reverend.
Doch so sehr sich die Menschen in Alabama auch vor Maxwell fürchteten – oder von ihm abgestoßen waren –, juristisch war ihm nicht beizukommen. Er war stets zur rechten Zeit am rechten Ort, besaß wasserdichte Alibis, verschwieg die Todesursachen bei seinen Versicherungsanträgen. Und nie fand sich ein Zeuge, der bereit war, gegen ihn auszusagen.
Langsam verwandelte sich das Flüstern in Angst. Die Leute begannen, Maxwell einen Voodoo-Priester zu nennen. Manche glaubten, er könne mit einem Blick töten, mit Zaubersprüchen Türen öffnen, sogar durch Wände hindurch wirken. Maxwell wurde der „Siebte Sohn eines Siebten Sohnes“ genannt – ein uralter Aberglaube, nach dem ihm übernatürliche Kräfte zustünden.
Obwohl es keinerlei Beweise für solche Praktiken gab, reichte die Summe der seltsamen Tode und Maxwells unheimliche Gelassenheit, um ganze Gemeinden zu verstören. Kirchen verboten ihm das Predigen. Versicherungsunternehmen begannen, seine Anträge strenger zu prüfen. Doch niemand konnte ihm wirklich etwas nachweisen.
Die 16-jährige Shirley Ann war das Pflegekind Maxwells und seiner dritten Ehefrau Ailia Burns. Sie war aufmüpfig, eigensinnig – ein typischer Teenager. Als sie eines Nachts verschwand, ging man zunächst von einem Ausreißversuch aus. Doch dann fand man sie – tot unter Maxwells Auto, das in einem verlassenen Friedhof abgestellt war.
Die Szene wirkte wie inszeniert: ein angeblicher Reifenwechsel, ein sauberer Reifen, keine Schmutzspuren an ihren Händen. Die Geschichte: unglaubwürdig. Die Polizei war ratlos. Wieder gab es Versicherungen. Wieder sollte Maxwell kassieren. Doch diesmal hatte jemand genug.
Am Tag ihrer Beerdigung war die Kapelle bis auf den letzten Platz gefüllt. Shirley Anns Schwester schrie durch den Raum: „Du hast meine Schwester getötet!“ Und in diesem Moment stand Robert Burns, Shirley Anns Onkel, auf – und erschoss Maxwell. Drei Schüsse ins Gesicht. Keine Reue. Nur Stille. Dann Panik. Dann eine seltsame Erleichterung.
Die Zeitungen sprachen von einem „Schamanenmord“ und einer Stadt, die „endlich wieder atmen konnte“. Der Täter wurde verhaftet – und wenig später freigesprochen. Unzurechnungsfähig, so das Urteil. Der Psychiater sagte: „Es war das Vernünftigste, was jemand in diesem Sommer getan hat.“
Diese Geschichte faszinierte nicht nur Alabama, sondern auch eine der bekanntesten Autorinnen Amerikas: Harper Lee. Die Autorin von Wer die Nachtigall stört reiste nach Cusa County, führte Interviews, nahm an Prozessen teil – alles für ein neues Buch: The Reverend.
Doch das Manuskript wurde nie veröffentlicht. Manche sagen, Lee verbrannte es. Andere behaupten, es sei vollendet worden – aber verschwunden. Ein Kapitel wurde nach ihrem Tod gefunden, in einem Brief an Maxwells Anwalt Tom Radney. Der Rest: ein literarisches Phantom.