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Der falsche Heiler: Skandal um Paolo Macchiarini

Im Namen der Wissenschaft: Wie Paolo Macchiarini zum gefährlichsten Arzt Europas wurde
Symbolbild. Foto: Piron Guillaume

Paolo Macchiarini galt als Held der modernen Medizin: Der Mann, der künstliche Organe erschaffen konnte. Er versprach Hoffnung – und brachte Leid.

Die Hoffnung der Julia Tulik

Julia Tulik lebt in St. Petersburg. Sie ist Balletttänzerin, Lehrerin, Mutter. Eine Frau voller Leben. Sie liebt ihren kleinen Sohn über alles, verbringt Zeit mit ihm am Meer, läuft mit ihm durch die Straßen ihrer Stadt, tanzt durchs Leben. Dann ein schwerer Autounfall. Knochenbrüche, Gesichtsverletzungen. Ihre Luftröhre wird schwer geschädigt. Julia überlebt, aber der Preis ist hoch: ein ständiges Loch im Hals, durch das sie atmet. Ihre Stimme ist schwach, Duschen riskant, Schwimmen verboten. Das Leben, wie sie es kannte, ist vorbei.

Vier Jahre lang klammert sie sich an einen Alltag voller Einschränkungen. Bis sie von einem Arzt hört, der Unmögliches verspricht. Ein Mann, der angeblich Menschen mit zerstörten Atemwegen heilt. Ein Arzt mit revolutionärer Methode: Paolo Macchiarini.

Der Star der Transplantationsmedizin

Paolo Macchiarini ist nicht irgendein Chirurg. Er ist das, was man in den Medien einen Wunderheiler nennt. Ein Star der regenerativen Medizin, gefeiert für seine bahnbrechenden Transplantationen: Künstliche Luftröhren aus Kunststoff, besiedelt mit Stammzellen des Patienten, sollen sich in lebendiges Gewebe verwandeln. Organe aus dem Labor, angepasst auf den Patienten, ohne die Notwendigkeit eines Spenders. Science-Fiction? Vielleicht. Aber eine Vision, die er als Realität verkauft.

Internationale Medien berichten über ihn, renommierte Forschungszentren reißen sich um seine Zusammenarbeit. Macchiarini inszeniert sich als moderner Prometheus: ein charismatischer, gutaussehender Arzt, der die Regeln bricht, um Leben zu retten. Ein Mann, dem man vertrauen möchte – muss. Denn wer, wenn nicht er, soll Hoffnung geben, wo es keine mehr gibt?

Die Operation

Julia kontaktiert Macchiarini. Er antwortet prompt. Ein Treffen, Gespräche, Untersuchungen. Schnell verspricht er Hilfe. Im Juni 2012 wird Julia operiert. Die Presse ist anwesend, als hätte man einen historischen Moment vor sich. Julia erhält eine künstliche Luftröhre, geformt aus Plastik, durchzogen mit ihren eigenen Stammzellen. Die OP scheint erfolgreich. Julia spricht vor Kameras, lächelt. Hoffnung keimt auf.

Doch nur drei Wochen später kollabiert das Implantat. Eine zweite Operation folgt. Ihr Zustand verschlechtert sich rapide. Macchiarini, der zuvor rund um die Uhr ansprechbar war, taucht ab. Julia leidet. Ihre Mutter berichtet von qualvollen Schmerzen. Julia stirbt 2014. Sie war keine Risikopatientin. Ihr Zustand war nicht lebensbedrohlich. Und dennoch bezahlte sie den Preis für ein medizinisches Experiment, das nie hätte stattfinden dürfen.

Andere Opfer, gleiche Methode

Julia war nicht die Erste. Schon 2011 hatte Macchiarini am renommierten Karolinska-Institut in Schweden seine Methode eingesetzt. Der erste Patient: Andemarian Beyene. Ein Akademiker mit Atemproblemen. Auch er stirbt nach zweieinhalb Jahren. Dann Christopher Lyles, ein US-Amerikaner mit Tumor an der Luftröhre. Er stirbt wenige Wochen nach der OP. Yesim Cetir, eine junge Frau aus der Türkei, leidet nach einer misslungenen OP an chronischem Husten. Sie lässt sich von Macchiarini behandeln. Sie wird 191 Mal operiert. Auch sie stirbt.

Selbst ein zweijähriges Mädchen, Hannah Warren, wird operiert. Sie stirbt zwei Monate nach dem Eingriff. In allen Fällen: kein Hinweis auf eine Gewebeentwicklung. Die Kunststoffröhren werden abgestoßen, verursachen Infektionen, zerstören Lungen.

Der Betrug

Hinter Macchiarinis Versprechen stand keine fundierte Forschung. Seine Methoden waren nicht validiert, seine Ergebnisse nicht belegt. Es gab keine ausreichenden Tierversuche, keine Studien, die seine Operationen an Menschen rechtfertigten. Stattdessen operierte er direkt am Menschen, fälschte Daten, beschönigte Berichte und manipulierte Aufnahmen. Radiologiebilder wurden ausgetauscht, Laborergebnisse frei erfunden. Das alles geschah nicht im Verborgenen, sondern unter den Augen renommierter Institutionen.

Kritische Stimmen meldeten sich. Doch anstatt sie ernst zu nehmen, schützten Klinikleitungen und Kollegen ihren Star. Das Karolinska-Institut in Schweden, eines der renommiertesten medizinischen Zentren der Welt, hielt an Macchiarini fest. Erst als Karl-Henrik Grinnemo und weitere Kollegen mit konkreten Beweisen an die Öffentlichkeit gingen, begann das Lügengebäude zu bröckeln.

Der charmante Lügner

Auch im Privaten war Paolo Macchiarini ein Meister der Manipulation. 2013 lernt er bei Dreharbeiten die amerikanische Journalistin Benita Alexander kennen. Was als professionelle Begegnung beginnt, wird zur Liebesbeziehung. Paolo macht ihr einen Antrag. Er verspricht eine Traumhochzeit in Rom: mit dem Papst als Trauzeugen, mit Auftritten von Andrea Bocelli und John Legend. Die Gästeliste liest sich wie das Who’s who der Weltelite. Alles gelogen.

In Wahrheit ist Macchiarini verheiratet. Der Verlobungsring ist wertlos. Als Benita beginnt, die Aussagen ihres Verlobten zu hinterfragen, kommt eine Lücke nach der anderen ans Licht. Als sie ihn mit den Fakten konfrontiert, behauptet er, ein CIA-Agent in geheimer Mission zu sein. Doch Benita bleibt standhaft. Sie deckt die Wahrheit auf, spricht öffentlich über den Betrug – und wird zur Schluesselfigur bei der Aufdeckung des Skandals.

„Bad Surgeon“ und die öffentliche Wende

Mit der Netflix-Dokumentation „Bad Surgeon: Love Under the Knife“ findet die Geschichte weltweite Aufmerksamkeit. Die dreiteilige Serie beleuchtet nicht nur Macchiarinis medizinische Verfehlungen, sondern auch seine privaten Lügen. Regisseur Ben Steele stellt die Stimmen der Opfer, der Whistleblower und vor allem Benita Alexander in den Mittelpunkt.

Die Doku zeigt, wie Macchiarini seine Karriere auf Betrug aufbaute, wie Medien und Institutionen lange mitspielten. Besonders eindrucksvoll: der Kontrast zwischen der medialen Verherrlichung und der realen Qual der Patienten. „Bad Surgeon“ ist mehr als eine Aufarbeitung. Es ist ein Mahnmal gegen blinden Fortschrittsglauben und für journalistische Verantwortung.

Die späte Gerechtigkeit

Trotz der erdrückenden Beweislage dauerte es Jahre, bis die Justiz reagierte. Erst 2022 wurde Macchiarini in Schweden zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt – in nur einem Fall. Die Reaktionen auf das Urteil waren empört. Zu viele Tote, zu viel Leid, zu wenig Konsequenz.

Ein Jahr später, 2023, folgte endlich ein klares Urteil: Macchiarini wird in drei Fällen schuldig gesprochen. Die Richter erkennen, dass er wissentlich eine Methode anwandte, deren Scheitern er kannte. Er habe das Leben seiner Patienten aufs Spiel gesetzt, obwohl Alternativen bestanden. Das Strafmaß: zweieinhalb Jahre Haft. Kein Schuldeingeständnis, kein Bedauern. Nur Schweigen und Abwehr.

Sieben von acht Patienten, denen er eine Plastikluftröhre einsetzte, sind tot. Die einzige Überlebende konnte nur gerettet werden, weil das Implantat rechtzeitig entfernt wurde. Ein Ergebnis, das nicht nur medizinische, sondern auch ethische Fragen aufwirft. Der Fall Paolo Macchiarini ist einer der größten Medizinskandale unserer Zeit. Er zeigt, wie ein Mensch, getrieben von Geltungssucht und Überheblichkeit, Leben zerstören kann. Wie Medien, Institutionen und Kollegen zu Komplizen werden, weil sie sich blenden lassen von Charisma, Ruhm und vermeintlicher Genialität.

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