Im Kölner Stadtteil Lindenthal ereignete sich im Jahr 2021 ein schockierender Fall, der weit über die Stadtgrenzen hinaus für Aufsehen sorgte: Eine Frau vergiftete ihren Bruder, den sie über Jahre hinweg gepflegt hatte. Was wie eine Tat aus Liebe erscheint, endete vor Gericht in einer Verurteilung wegen Mordes. Doch die Hintergründe dieses Falles sind komplexer, als es auf den ersten Blick scheint.
Die Frau lebte mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder zusammen, der aufgrund zahlreicher gesundheitlicher Probleme ein Pflegefall war. Er litt seit seiner Geburt an körperlichen Beeinträchtigungen, die durch einen schweren Unfall im Alter von 19 Jahren noch verschlimmert wurden. Nach Monaten im Koma kämpfte er sich ins Leben zurück, nur um 38 Jahre später erneut von einem Unfall schwer getroffen zu werden, der ihm eine Epilepsie und weitere Hirnschäden bescherte.
Trotz all dieser Rückschläge führte der Mann ein relativ unabhängiges Leben. Er arbeitete in einer Behindertenwerkstatt und träumte von einem Platz in einem Pflegeheim, um der engen, teils erdrückenden Pflege seiner Schwester zu entkommen. Doch diese sah dies anders. Sie wollte ihm das Schicksal eines Pflegeheims ersparen, das sie als Ort der Entwürdigung ansah.
Am 11. September 2021 mischte die Frau ihrem Bruder einen Bananenshake – eine vermeintlich harmlose Geste der Fürsorge, die zum tödlichen Cocktail wurde. Sie löste 50 Kapseln Oxycodon, ein starkes Schmerzmittel, sowie weitere Medikamente, darunter ein Antidepressivum und ein Beruhigungsmittel, in dem Getränk auf. Der Bruder trank es, ohne etwas zu ahnen. Kurz darauf setzte sich die Frau neben ihn auf die Couch, streichelte ihm die Wange und wartete, bis er den letzten Atemzug tat.
Doch die Tragödie endete nicht mit seinem Tod. Die Frau versuchte auch, sich selbst das Leben zu nehmen. Sie schrieb Abschiedsbriefe an ihre drei Kinder, verteilte die leeren Medikamentenschachteln in verschiedenen Mülltonnen, um keine Spuren zu hinterlassen, und nahm schließlich selbst eine Überdosis. Anders als ihr Bruder überlebte sie jedoch.
Als die Polizei zwei Tage später die Wohnung aufbrach, fanden sie den Bruder tot auf der Couch. Die Frau, die benommen auf allen Vieren entgegengerobbt kam, gestand sofort: „Ich wollte ihm helfen, er wollte sterben. Ich wollte sterben.“ Noch im Krankenhaus wurde ihr der Haftbefehl verlesen.
Im Sommer 2022 begann der Prozess vor dem Kölner Landgericht. Die Staatsanwaltschaft klagte die Frau wegen Mordes an und führte das Mordmerkmal der Heimtücke an. Sie argumentierte, dass die Frau die arglose und wehrlose Situation ihres Bruders ausgenutzt habe, um ihn zu töten. Die Angeklagte verteidigte sich, indem sie ihre Tat als Sterbehilfe darstellte – sie habe ihrem Bruder Leid ersparen wollen. Doch die Beweise sprachen eine andere Sprache.
Während des Prozesses wurde klar, dass der Bruder keineswegs den Wunsch geäußert hatte, zu sterben. Im Gegenteil: Er hatte in der Behindertenwerkstatt sogar Pläne geschmiedet, mit einem Freund in ein Pflegeheim zu ziehen, um seiner Schwester zu entkommen. Diese Tatsache widerlegte die Behauptung der Frau, sie habe im Sinne ihres Bruders gehandelt.
Die Angeklagte zeigte sich im Prozess zwiegespalten. Einerseits betonte sie immer wieder, sie habe aus Liebe gehandelt, andererseits kämpfte sie gegen das Urteil an. Sie gab sogar eine ausführliche Chronik ihres Lebens ab, in der sie ihre enge Bindung zu ihrem Bruder seit Kindertagen darstellte. Doch die Richterin erkannte in ihren Handlungen nicht die selbstlose Fürsorge, die sie vorgab, sondern eine egoistische, kontrollierende Haltung.
Das Gericht urteilte schließlich, dass die Frau aus einer feindlichen Gesinnung heraus gehandelt hatte. Ihre Tat sei nicht von Liebe oder Mitgefühl geprägt gewesen, sondern von ihrem eigenen Wunsch, über das Leben ihres Bruders zu bestimmen. Der Bruder, so urteilte das Gericht, wollte leben – doch die Schwester hatte das für ihn entschieden.
Das Urteil lautete: lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes. Die Angeklagte akzeptierte das Urteil zunächst, ging aber später doch in Revision, die jedoch abgelehnt wurde. Das Gericht erkannte keinen mildernden Umstand in ihrem Versuch, sich selbst das Leben zu nehmen. Die Entscheidung war klar: Das, was sie als Sterbehilfe bezeichnete, war in den Augen der Richter nichts anderes als Mord.
Der Fall wirft grundlegende Fragen zur Sterbehilfe und zum Umgang mit Pflegebedürftigen auf. In Deutschland ist die aktive Sterbehilfe nach wie vor verboten, doch die Diskussion um die Legalisierung reißt nicht ab. Fälle wie dieser zeigen, wie schmal der Grat zwischen Hilfe und Kontrolle, zwischen Mitgefühl und Egoismus sein kann.
Der Bruder hatte zwar viele gesundheitliche Einschränkungen, doch er war keineswegs unfähig, für sich selbst zu entscheiden. Die Schwester hingegen entschied für ihn – mit fatalen Konsequenzen.