
Am 22. Dezember 1995, einem eiskalten Freitagabend kurz vor Weihnachten, betrat die 20-jährige Andrea D. den Regionalexpress 4412 in Freital-Deuben. Die junge Frau war Auszubildende zur Röntgenassistentin, lebte in einem Schwesternwohnheim bei Dresden und wollte über das Wochenende ihren Freund in Glauchau besuchen. Das Paar war frisch verliebt, hatte Pläne für die Zukunft, träumte von einer gemeinsamen Wohnung in Chemnitz und dem ersten gemeinsamen Urlaub auf Mallorca.
Doch Andrea kam nie an ihrem Ziel an. Als der Zug gegen 20:45 Uhr in Glauchau hielt, wartete ihr Freund vergeblich. Auch an der Endstation Zwickau war sie nicht unter den Aussteigenden. Was zunächst wie ein Missverständnis wirkte, entwickelte sich noch in derselben Nacht zur Gewissheit eines Verbrechens.
Am Morgen des 23. Dezember 1995 entdeckte ein Bahnmitarbeiter nahe des Bahndamms bei Rüsdorf, zwischen Glauchau und Zwickau, eine weibliche Leiche. Es war Andrea D. Der Fundort offenbarte ein erschütterndes Bild: Andrea war untenrum entkleidet, mit einem Männerslip als Knebel im Mund. Ihre persönlichen Gegenstände lagen verstreut auf den Gleisen. Die Obduktion ergab, dass sie wahrscheinlich erstickte, noch bevor sie bewusstlos aus dem fahrenden Zug gestoßen wurde.
Ihre Verletzungen deuteten auf einen extrem brutalen Übergriff hin: zahlreiche Knochenbrüche, wie sie nur bei einem Sturz aus einem Zug bei rund 100 km/h auftreten. Alles sprach für ein Sexualverbrechen mit anschließender Tötung.
Die Kriminalpolizei richtete umgehend die Sonderkommission „REX“ (für „Regionalexpress“) ein. Die Ermittlungen konzentrierten sich zunächst auf den Tatort: der vorderste Waggon des Zuges und eine Zugtoilette. Dort sicherten Spezialisten biologische Spuren, darunter eine Spermaspur am Körper des Opfers. Diese sollte Jahre später eine zentrale Rolle spielen.
Erste Zeugenaussagen lieferten Hinweise auf einen auffälligen Mann im Zug. Mehrfach hatte er die Toilette aufgesucht, sich unangemessen verhalten und soll Andrea D. angesprochen haben, die ihn ignorierte. Danach folgte er ihr Richtung Toilette – das war die letzte bekannte Bewegung des Opfers.
Schon am Heiligabend 1995 informierte die Polizei auf einer Pressekonferenz die Öffentlichkeit und bat dringend um Hinweise. Die Resonanz war groß, es gingen hunderte Hinweise ein. Um die Identität des unbekannten Mannes zu klären, erstellte die Polizei eine auf Zeugenaussagen basierende Fotorekonstruktion – ein Phantombild, das in der Sat.1-Sendung Fahndungsakte gezeigt wurde.
Auch Aktenzeichen XY … ungelöst griff den Fall am 16. Januar 1998 auf. Die Sendung zeigte eine detailreiche Nachstellung der Tat und versprach 50.000 D-Mark Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen würden. Doch trotz großer Medienresonanz blieb der Täter zunächst unentdeckt.
Die Ermittlungen liefen auf Hochtouren, doch der Durchbruch blieb aus. Die Täterbeschreibung blieb vage. Hinweise auf einen Mann mit einem Pizza-Hut-Mitbringsel oder verdächtiges Verhalten am Wohnheim der Krankenschwestern brachten keine konkreten Ergebnisse. Die Polizei überprüfte zahlreiche Sexualstraftäter in Sachsen – ohne Erfolg.
Die Tatsache, dass es sich bei dem Täter um einen Fremden ohne persönliche Verbindung zum Opfer handelte, erschwerte die Ermittlungen enorm. Trotz moderner Spurensicherung war ein Abgleich mit DNA-Datenbanken damals noch nicht möglich – die entscheidende Technik fehlte noch.
Der Durchbruch gelang erst Jahre später – dank einer rechtlichen Neuerung: Das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz trat 1998 in Kraft und erlaubte erstmals den bundesweiten Abgleich von DNA-Spuren mit erfassten Profilen in einer zentralen Datenbank für Schwerverbrecher.
Ende 1999 überprüften die Ermittler aus Sachsen erneut die DNA-Spur vom Tatort – und erhielten endlich einen Treffer. Die DNA passte zu Jens W., einem bereits verurteilten Mörder aus Baden-Württemberg.
Jens W., geboren 1970 in Crimmitschau, war 1990 in den Westen gezogen. Im Februar 1996 – nur zwei Monate nach dem Mord an Andrea D. – hatte er in Karlsruhe eine Prostituierte brutal getötet und war kurz darauf verhaftet worden. Seine DNA war deshalb in der neuen Datenbank registriert. Der Abgleich mit der Spur vom Tatort des Regionalexpress-Mords war eindeutig.
Als die Ermittler im Dezember 1999 seine DNA erneut testeten, bestätigte sich der Verdacht. Jens W. wurde erneut vernommen – und gestand die Tat an Andrea D.
Im Jahr 2000 erhob die Staatsanwaltschaft Chemnitz Anklage gegen Jens W. wegen Mordes. Der Fall erregte erneut große Aufmerksamkeit. Im ersten Verfahren wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, doch der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf – die vorsätzliche Tötungsabsicht sei nicht eindeutig nachgewiesen worden.
Im Februar 2002 kam es zur Neuverhandlung. Das Landgericht Chemnitz verurteilte Jens W. rechtskräftig wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung mit Todesfolge zu lebenslanger Haft. Er verbüßt seine Strafe in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung. Die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt.
Ohne die DNA-Analyse und die rechtliche Grundlage zum Datenabgleich wäre der Täter womöglich nie gefasst worden. Der Mordfall Andrea D. steht exemplarisch für den kriminaltechnischen Fortschritt in den 1990er-Jahren, der aus einem „Cold Case“ eine erfolgreich abgeschlossene Ermittlung machte.
Die Beharrlichkeit der Ermittler, die präzise Spurensicherung und der öffentliche Druck durch Medienberichte und Fahndungssendungen bildeten gemeinsam die Grundlage für die Aufklärung. Heute gilt der Fall Andrea D. als Meilenstein in der deutschen Kriminalgeschichte.
Der Mord an Andrea D. zeigt auf erschütternde Weise, wie zerbrechlich ein junges Leben sein kann – und wie lange der Weg zur Gerechtigkeit dauern kann. Die Familie, Freunde und Ermittler fanden durch Jens W.s Verurteilung späte Gewissheit und wenigstens ein kleines Stück Gerechtigkeit.
Gleichzeitig verdeutlicht der Fall, wie bedeutend moderne forensische Methoden wie die DNA-Analyse sind – und wie sie selbst Jahre später dazu beitragen können, Täter zu identifizieren und Verbrechen aufzuklären. Ein tragisches Verbrechen, das nie vergessen werden darf – und ein Fall, der zeigt: Auch späte Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit.