Am Morgen des 14. August 2001 fand eine Altenpflegerin die Leiche der 82-jährigen Katharina H. in ihrem Zimmer im Gästehaus zur Mühle in Eschenlohe. Die Frau, die von vielen Dorfbewohnern liebevoll „Oma Trinchen“ genannt wurde, lag regungslos in ihrem Bett. Was zunächst wie ein natürlicher Tod wirkte, entpuppte sich schnell als grausames Verbrechen. Der herbeigerufene Arzt bemerkte Anzeichen eines unnatürlichen Todes und alarmierte die Behörden.
Die Todesursache war klar: Katharina H. war mit einem weichen Gegenstand, vermutlich einem Kissen oder einer Decke, erstickt worden. Wer tat so etwas einer alten, kranken Frau an, die von allen geschätzt und gemocht wurde? In dem ruhigen, idyllischen Dorf Eschenlohe, das am Fuße der Zugspitze liegt, konnte sich niemand vorstellen, dass solch eine Tat von jemandem aus der Dorfgemeinschaft verübt worden sein könnte. Doch die ersten Verdächtigen waren schnell gefunden – es handelte sich um die eigenen Verwandten der Toten.
Schon in den ersten Stunden nach dem Fund der Leiche verhielt sich die Familie H., die unmittelbaren Angehörigen von Katharina, äußerst auffällig. Statt sofort die Polizei zu informieren, riefen sie nacheinander drei Ärzte herbei, um den Tod der alten Dame zu bestätigen. Dieses Verhalten erregte das Misstrauen der Mediziner. Besonders Christian H., der Enkel von Katharina, fiel durch sein aggressives und merkwürdiges Verhalten auf. Als ein Arzt vorschlug, die Polizei zu verständigen, wies Christian ihn scharf an, ein anderes Telefon zu benutzen und das Gelände zu verlassen.
Die Verdächtigungen wuchsen, als der Enkel gegen Mittag beim Bestattungsinstitut Baddack in Berlin anrief und fragte, ob man die Leiche schnell und weit weg transportieren könne. Die Familie versuchte anscheinend, den Körper von Katharina H. so schnell wie möglich verschwinden zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, dass es sich um ein Verbrechen handelte, doch wer aus der Familie war der Täter? Es wurde bald deutlich, dass der Fall komplexer war, als zunächst angenommen.
Als die Polizei schließlich am Nachmittag des 14. August in Eschenlohe eintraf, eskalierte die Situation dramatisch. Die Familie H. – bestehend aus Hans Georg, dem Sohn der Verstorbenen, seiner geschiedenen Frau Irene und dem 25-jährigen Enkel Christian – verbarrikadierte sich in ihrem Haus, das nur wenige Meter vom Gästehaus entfernt lag. Hans Georg, ein Jäger, war bekannt dafür, mehrere Schusswaffen zu besitzen, und so ging die Polizei von einer potenziell gefährlichen Situation aus. Das Anwesen wurde großflächig abgesperrt, während sich die Familie weigerte, mit den Beamten zu sprechen.
Die Anspannung wuchs, als die Familie begann, sich zunehmend aggressiv zu verhalten. Gegen Abend feuerte Irene H. schließlich einen Schuss vom Balkon des Hauses in Richtung der Polizisten. Die Lage wurde brenzlig, und ein Sondereinsatzkommando (SEK) aus München wurde hinzugezogen. Stundenlang versuchten die Einsatzkräfte, die Familie zur Aufgabe zu bewegen, doch alle Verhandlungsversuche scheiterten. Als schließlich Schüsse fielen, sah sich das SEK gezwungen, das Haus zu stürmen. Hans Georg, Irene und Christian wurden festgenommen, ohne dass jemand verletzt wurde. Doch das wahre Drama begann erst danach.
Im Jahr 2002 begann der Prozess vor dem Landgericht München II, der schnell als der „Oma-Mord-Prozess“ bekannt wurde. Die Staatsanwaltschaft warf Hans Georg, Irene und Christian vor, Katharina H. gemeinsam ermordet zu haben, um die Pflegekosten zu sparen. Der Sohn und die Schwiegertochter lebten seit Jahren im selben Haushalt mit Katharina H., die pflegebedürftig war. Die Theorie der Staatsanwaltschaft: Die Familie wollte die steigenden Kosten für die Pflege der alten Frau vermeiden und entschied sich dafür, sie zu töten.
Obwohl viele Indizien gegen die drei Angeklagten sprachen, kam es zu einem überraschenden Urteil. Trotz des erdrückenden Verdachts wurden alle drei freigesprochen. Das Gericht stellte zwar fest, dass Katharina H. zweifellos von einem ihrer Angehörigen erstickt worden war, doch es konnte nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, wer den tödlichen Akt begangen hatte. Der Richter betonte, dass der oder die Täter wahrscheinlich unter den Angeklagten saßen, aber ohne ein Geständnis oder eindeutige Beweise war eine Verurteilung nicht möglich.
Für die Dorfgemeinschaft von Eschenlohe war das Urteil ein Schock. Viele Bewohner waren überzeugt, dass die Familie H. schuldig war, doch das Gesetz hatte anders entschieden. Der Freispruch sorgte für großes Unbehagen, denn die Verdächtigen blieben im Dorf, wo sie weiterhin unter den Menschen lebten, die sie nun für Mörder hielten.
Nach dem Freispruch veränderte sich das Leben der Familie H. drastisch. Die einst angesehene Familie zog sich immer mehr aus der Dorfgemeinschaft zurück. Ihr einst prachtvolles Gästehaus, das zur Zwangsversteigerung kam, verfiel zusehends. Die neuen Besitzer versuchten vergeblich, die Kontrolle über das Anwesen zu erlangen, doch Hans Georg und sein Sohn weigerten sich, das angrenzende Haus zu verlassen. Das Anwesen, umgeben von hohen Bäumen und dichtem Gestrüpp, wurde zu einem Symbol der Isolation und des Misstrauens.
Die Dorfbewohner beobachteten die Familie mit Argwohn, doch sie hatten keine rechtlichen Mittel, um die Situation zu ändern. Hans Georg und Christian lebten ohne fließendes Wasser und Strom, den sie über einen Generator bezogen. Sie verweigerten jegliche Zusammenarbeit mit den Behörden und Nachbarn. In den Augen der Eschenloher war die Familie H. nicht nur verdächtig, sondern auch eine ständige Bedrohung.
In Eschenlohe breitete sich eine Atmosphäre des Schweigens und Misstrauens aus. Die Dorfbewohner sprachen selten offen über den Fall, doch die Angst, dass die Mörder von Oma Trinchen weiterhin unter ihnen lebten, war allgegenwärtig. Einige Nachbarn versuchten, die Familie H. zu ignorieren, andere hielten sie für gefährlich. Der Schuss, den Irene H. damals vom Balkon abfeuerte, hallte nicht nur in der Nacht nach, sondern prägte die Wahrnehmung der Dorfbewohner für viele Jahre.
Immer wieder kam es zu Konflikten zwischen der Familie H. und den Nachbarn. Frau W., eine der Nachbarinnen, hatte im Prozess gegen die Familie ausgesagt und berichtete von der Angst, die Katharina H. vor ihren eigenen Verwandten gehabt habe. Heute lebt sie in ständiger Furcht und hofft auf Personenschutz. Auch andere Nachbarn äußern sich nur noch zurückhaltend, aus Angst vor möglichen Vergeltungsmaßnahmen.
Auch mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Mord an Katharina H. ist der Fall nicht vergessen. Es gibt keine endgültigen Antworten, nur Spekulationen und Ängste. Die Dorfbewohner von Eschenlohe leben weiterhin mit dem Wissen, dass die mutmaßlichen Täter unter ihnen sind. Das einst lebendige Gästehaus zur Mühle ist verfallen und steht als stumme Erinnerung an das Verbrechen, das das Dorf erschütterte.
Die Frage bleibt: Wird das Rätsel um den Mord an Oma Trinchen jemals gelöst werden? Für die Dorfbewohner scheint der Schatten dieses Verbrechens nicht so schnell zu vergehen. Das Schweigen, das über Eschenlohe liegt, ist laut und beklemmend – und es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich dies bald ändern wird.