Es war eine kalte Nacht, als der 17-jährige Mark S. auf einen Baum in einer Wohnsiedlung in Mönchengladbach kletterte. Dort fand er den Tod. Drei Monate lang blieb sein Körper unentdeckt, ein trauriger Zeuge einer noch viel tragischeren Geschichte, die Jahre zuvor ihren Anfang nahm. Dieser Artikel rekonstruiert die Ereignisse, die zum Tod von Mark S. führten.
Am 24. Januar 2014 eskaliert ein Streit in der Familie von Mark S., damals 14 Jahre alt. Es ist der letzte Streit, den seine Mutter lebend erleben wird. An diesem Morgen flieht der blutüberströmte Junge auf die Straße und ruft um Hilfe: „Er will meine Mutter umbringen!“ Er stürmt in ein gegenüberliegendes Versicherungsbüro, die Angestellten alarmieren sofort die Polizei. Marks Vater, Manfred S., wird noch auf der Straße gestellt.
In der Nacht zuvor hatte Manfred S. im Keller übernachtet, wie er es häufig tat, wenn er zu viel getrunken hatte. An jenem Morgen steht er vor der Tür und verlangt Einlass. Als seine Frau ihn nicht hereinlassen will, dringt er gewaltsam in die Wohnung ein. Er versucht, seine Frau zu küssen und fragt, ob sie ihn noch liebe. Als sie verneint, greift er nach einem Küchenmesser und sticht zu. Mark versucht, seine Mutter zu retten, wird aber von seinem Vater zu Boden geschleudert. Der Vater sticht erneut zu, während Mark hilflos zusehen muss.
In einem letzten verzweifelten Versuch, seinen Vater aufzuhalten, schlägt Mark ihm das Messer aus der Hand. Doch der Vater holt weitere Messer aus der Küche. Trotz lebensbedrohlicher Verletzungen sperrt Mark seinen Vater in der Küche ein, doch es gelingt ihm nicht, ihn dauerhaft zu stoppen. Manfred S. kehrt zurück und greift seine Frau erneut an.
Blutend und verzweifelt flieht Mark in das Versicherungsbüro gegenüber. Tobias Nix, der dort arbeitet, erinnert sich an den schrecklichen Morgen: „Ein Junge stand in der Tür, blutüberströmt und nach Hilfe rufend.“ Die Polizei trifft kurz darauf ein und versucht, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Auch Athanassios Angelis, ein weiterer Angestellter, eilt zur Hilfe. Sie finden Mark in einem erschreckenden Zustand vor, blutend und schwer verletzt. Die Wände und der Boden des Büros sind mit Blut bedeckt.
Die Polizei muss Manfred S. mit Gewalt überwältigen. Der Vater hatte sich in der Wohnung verbarrikadiert und griff die Polizisten mit seinen Waffen an. Sie schießen auf ihn, verletzen ihn schwer, aber nicht tödlich. Währenddessen wird Mark notoperiert.
Die Ermittlungen bringen ans Licht, dass Manfred S. bereits wegen eines ähnlichen Vergehens im Gefängnis saß. Er hatte eine Frau mit einem Messer angegriffen und war dafür verurteilt worden. Diese Information war jedoch nicht in den aktuellen Akten der Polizei vorhanden, da die alten Akten routinemäßig vernichtet wurden. Obwohl die Polizei mehrfach zu Einsätzen in der Familie S. gerufen wurde, waren die Vorfälle als geringfügig eingestuft worden.
Der Prozess gegen Manfred S. fand im November 2014 statt. Mark sagte gegen seinen Vater aus und beschrieb die schrecklichen Ereignisse. Richter Lothar Beckers erinnerte sich später: „Mark war sehr zurückhaltend, es hat ihn sichtlich belastet.“ Der Vater schwieg während des Prozesses, bestätigte aber später, dass die Aussagen seines Sohnes der Wahrheit entsprachen.
Manfred S. wurde wegen Totschlags an seiner Frau und versuchten Mordes an seinem Sohn verurteilt. Die juristische Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag lag in den Beweggründen und der Tatabsicht des Angeklagten.
Nach dem Mord an seiner Mutter und dem Tod seines Vaters im Gefängnis im Februar 2015 verschlechterte sich Marks Zustand weiter. Der Verlust beider Elternteile und die traumatischen Erlebnisse hinterließen tiefe seelische Narben bei dem Jugendlichen. Mark wurde in ein Heim gebracht, wo er nach mehreren Wechseln schließlich eine Gruppe fand, die zu ihm passte. Doch die inneren Dämonen ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Die Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse, die Schuldgefühle und die posttraumatische Belastungsstörung machten ein normales Leben für ihn nahezu unmöglich.
Mark konnte sich in geschlossenen Räumen kaum noch aufhalten. Enge Räume lösten bei ihm Panik und Unruhe aus. Mehrmals versuchte das Jugendamt, ihn in einer Psychiatrie unterzubringen, doch dies scheiterte immer wieder, weil Mark keine unmittelbare Gefahr für sich oder andere darstellte. Zudem waren Ärzte und Richter der Ansicht, dass ihn die geschlossene Unterbringung noch weiter schädigen würde. So entschied man sich, ihm mehr Freiheit zu lassen und ihm gleichzeitig Unterstützung anzubieten.
Mark zog es vor, auf der Straße zu leben, suchte Schutz auf Bäumen und Flachdächern. Er hatte keinen festen Wohnsitz mehr und bewegte sich ständig von Ort zu Ort. Streetworker hielten regelmäßig Kontakt zu ihm und versuchten, ihm zu helfen, wo sie konnten. Sie gaben ihm etwas Geld und versuchten, ihm Zugang zu notwendigen Ressourcen zu verschaffen. Doch Mark entzog sich immer wieder den Maßnahmen und lehnte es ab, in Einrichtungen zu bleiben, die ihm Schutz bieten sollten.
In seiner verzweifelten Lage griff Mark zu verzweifelten Maßnahmen. Er stahl Essen, brach in Geschäfte ein und wurde mehrmals festgenommen. Doch jedes Mal wurde er aus der Untersuchungshaft entlassen, da man befürchtete, dass er durchdrehen könnte, wenn man ihn erneut einsperrt. Schließlich wurde er wegen verschiedener Delikte zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Der Haftbefehl, der nach einem weiteren Delikt gegen ihn erlassen wurde, konnte jedoch nicht vollstreckt werden, da Mark unauffindbar war.
Marks Zustand verschlechterte sich weiter. Er konnte nicht in der Gesellschaft Fuß fassen und fand keinen Ausweg aus seiner verzweifelten Lage. Ende Januar 2017 kletterte Mark ein letztes Mal auf eine Eibe, um dort die Nacht zu verbringen. Er war inzwischen völlig isoliert, lebte in ständiger Angst und konnte keine Wärme und Geborgenheit mehr finden. Trotz aller Bemühungen der Sozialarbeiter und Behörden, ihm zu helfen, fand er keinen Weg zurück in ein normales Leben.
Marks Geschichte ist ein tragisches Beispiel dafür, wie ein junger Mensch inmitten einer modernen Gesellschaft durch die Maschen des sozialen Netzes fallen kann. Trotz aller Bemühungen von Sozialarbeitern und Behörden fand Mark keinen festen Halt. Seine Flucht in die Einsamkeit und die Natur, sein Rückzug auf Bäume und Dächer, zeugen von einem tiefen Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz, den er in der menschlichen Gesellschaft nicht mehr fand. Sein Tod ist nicht nur ein persönliches, sondern auch ein gesellschaftliches Versagen – ein junger Mensch, der trotz aller Unterstützung nicht gerettet werden konnte.